Ehrenämter im Sport: Platz für Verrückte
Der Sportbereich ist der größte Träger freiwilligen Engagements in Berlin. Aber Studien warnen: Es wird weniger
Regen fällt, es ist ungemütlich. Aber auf dem Ernst-Reuter-Sportfeld in Zehlendorf sind an diesem Freitagnachmittag im September alle Plätze mit mehreren Jugendmannschaften voll besetzt. Fußbälle fliegen, Jungen und Mädchen dribbeln um Hütchen herum, üben Torschüsse oder das Pass-Spiel. Mitten im Getümmel auf einem der Kunstrasenplätze steht Gregor Jentschura, Trainer der 2. F-Jugend, und erklärt einem seiner 15 Spieler, wie er beim Torschuss mit dem Standbein zu stehen hat. Alltag auf dem Trainingsgelände von Hertha 03 Zehlendorf, ein Klub, der zurzeit 32 Jugendteams vorzuweisen hat.
Jentschura, 38, gehört mit seiner Familie zu den 1,85 Millionen Ehrenamtlichen in deutschen Sportvereinen, die mit einem durchschnittlichen Einsatz von 32,5 Stunden im Monat diesen „Alltag“ überhaupt erst gewährleisten. An diesem Freitag steht nicht nur der Bauingenieur auf dem Platz: Auch seine Frau, seine Mutter und seine Schwiegereltern sind verteilt auf dem Gelände mit Betreuen oder Trainieren beschäftigt. Und Rüdiger Wolter, Jentschuras Onkel, leitet auch noch die stets voll besetzten Feriencamps des Klubs.
Diese Familie, das sagen sie selbst, ist ein „bisschen verrückt“. Und würde man sie demnächst auf den Mond entführen, dann, sagt Gregor Jentschura, „trainieren wir eben auf dem Mond ein Fußball-Team“.
Dieses unbedingte Engagement ist ideal für einen Verein. Aber es ist längst nicht mehr die Normalität. Diese positiv „Verrückten“ werden in Sportvereinen weniger. Der organisierte Sport ist zwar auch in Berlin der mit großem Abstand bedeutendste Träger von freiwilligem Engagement. Aber für Sportvereine wird es immer schwieriger, Ehrenamtliche zu gewinnen und dauerhaft an sich zu binden. Im jüngsten Sportentwicklungsbericht 2009/2010, in der die Situation der Sportvereine analysiert wird, steht: „Neun Prozent der Vereine nehmen dieses Problem als existenzbedrohlich wahr.“
Sebastian Braun, Professor für Sportsoziologie an der Humboldt-Universität in Mitte, diagnostiziert in seiner Studie „Ehrenamtliches und freiwilliges Engagement im Sport“ sogar weitreichende „Erosionstendenzen“. Braun hat die sogenannten Freiwilligensurveys des Bundesministeriums für Familie und Jugend von 1999, 2004 und 2009 speziell für den Sportbereich ausgewertet. Sein Ergebnis: „Die Daten lassen einen sukzessiven Rückgang der Engagementquote erkennen, der sich zwischen 2004 und 2009 erheblich dynamisiert hat.“ Parallel zum generellen Rückgang des freiwilligen Engagements im Sportbereich sinkt auch der Anteil der Funktionsträger deutlich, das heißt, immer weniger Menschen wollen Leitungs- oder Vorstandsfunktionen wahrnehmen. In absoluten Zahlen ausgedrückt kommt Braun auf eine Zahl von 650 000 Menschen, die dem Ehrenamt zwischen 2004 und 2009 verloren gegangen sind.
Was das für die Zukunft von Vereinen heißt, ist noch unklar. Denn es gibt keine zentral erhobenen Zahlen etwa von Vereinen, die aufgeben mussten. „Die Datenlage ist unvollständig“, sagt Braun. Insgesamt steigt die Anzahl der Vereine leicht an, aber laut Statistiken der Landessportbünde hatten 2009 fünf Bundesländer weniger Vereine als 2001. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat sogar eine neue Stelle für das „Ehrenamt“ eingerichtet. Präventiv, wie es heißt. Damit nicht das passiert, was dem SC Meppen-Emsland widerfahren ist.
23 Jahre lang hat sich Erna Backs für diesen Verein eingesetzt. Der SC Meppen-Emsland war ein erfolgreicher Schwimm-Verein, gewann Titel auf allen Ebenen. Mehr als 800 Mitglieder hatte der Klub zu seinen besten Zeiten, dann ging es bergab. „Irgendwann wurde es immer schwerer, Trainer zu finden“, sagt die 62-Jährige. Vor zwei Jahren waren zwar noch immer 475 Mitglieder registriert, trotzdem musste der Verein dicht machen, weil er die Kinder- und Jugendlichen nicht mehr betreuen konnte.
Wenn Erna Backs Gründe nennen soll für diese Entwicklung, sagt sie: „Früher haben viele Mütter mehr Zeit gehabt, sie waren abgesichert durch den Mann. Heute müssen auch die Frauen für die Rente arbeiten. Die meisten haben keine Zeit mehr.“ Oder keine Lust. Das uneingeschränkte Engagement, was Menschen wie Erna Backs oder die Jentschuras auszeichnet, wollen viele nicht mehr aufbringen. Beim Schwimmen kommt hinzu, dass man sich qualifizieren muss, den „Riegenführer“ machen, den DLRG-Rettungsschein erwerben. „Das ist gar nicht so leicht für einen, der nicht regelmäßig schwimmt“, sagt Backs.
Was sie im Emsland/Niedersachsen erlebt hat, kann Sebastian Braun gut nachvollziehen. Er vertritt die These, dass Sportvereine vor einem „fundamentalen Strukturwandel“ stehen. Bisher war der Sportverein in erster Linie eine Solidargemeinschaft, in der das Miteinander, die Geselligkeit, das Zusammengehörigkeitsgefühl und auch Freundschaften eine wichtige Rolle spielten. Um sich aber finanzieren zu können, müssen immer mehr Vereine „Dienstleister“ werden. Schwimmvereine bieten Aqua-Fitness-Kurse an, Fußball-Klubs vermieten ihre Kleinfeld-Plätze an Freizeit- oder Seniorenteams.
Im Vereinsheim von Hertha 03 sitzt die Jentschura-Familie beisammen und denkt über alte Zeiten nach. Das „gesellige Zusammensitzen und Feiern“ habe generell abgenommen, die Teams blieben eher unter sich, das Vereinsheim als Treffpunkt verliere an Bedeutung. Drei bis sechsmal die Woche sind sie, je nach Mannschaft, für den Verein unterwegs. Plus Wochenenden. Alle sind sich einig: „Wenn der Partner nicht mitspielt, geht die Ehe oder die Freundschaft kaputt.“ Es gab Zeiten, da hat Alexandra Jentschura ihren Sohn Luca in der Halbzeit eines Spiels gestillt. Alle von ihnen haben sehr viel private Freizeit investiert, freiwillig. „Aber“, sagt Marita Schimmel, Gregor Jentschuras Mutter, „sie dürfen dafür kein Dankeschön erwarten. Wer sich das erhofft, ist hier falsch.“
Diese Familie bestätigt, was die Studien sagen: Es gibt weniger Ehrenamtliche, aber die, die weniger werden, machen mehr. Das rettet viele Vereine noch. Und viele Vereine erwarten diesen meist selbstlosen und manchmal auch gesundheitsgefährdenden Einsatz wie eine Selbstverständlichkeit. Wer schon mal da ist, der kann ohnehin auch mehr tun. In der Regel heißt das für viele Eltern, die erstmals mit ihren Kindern in Vereine kommen, dass sie praktisch gezwungen werden, sich zu engagieren. Das geht so: Meist wollen gerade im Fußball viel mehr Kinder in den Verein als Plätze vorhanden sind. Dann stellt sich der Jugendleiter des jeweiligen Vereins hin und sagt zu den Eltern: „Wir haben leider nur 35 Plätze, aber wenn sich noch ein Vater findet, der eine Mannschaft trainieren kann, machen wir noch ein Team auf.“
Doch die beruflichen Realitäten, der ohnehin für viele komplizierte Spagat zwischen beruflichen und familiären Anforderungen, verhindern oftmals dieses Engagement, das sich viele gut vorstellen können. In seiner Studie hat Braun herausgefunden, dass der stärkste Rückgang von Ehrenamtlichen bei denen auszumachen sei, die Familie und Beruf in Einklang bringen müssen. 2009 hatten knapp zehn Prozent der Erwerbstätigen überlange Arbeitszeiten von mehr als 48 Stunden pro Woche. Wer kommt in der Woche um 15 Uhr von der Arbeit weg, um gegen 16 Uhr auf dem Trainingsplatz oder in der Schwimmhalle stehen zu können?
Braun sagt, die heutigen Ehrenamtlichen ändern, anders als Erna Backs oder die Jentschuras, ihr Verhalten. „Sie tun nur das in den Verein rein, was sie als Gegenleistung herausbekommen.“ So werden aus Mitgliedern in gewisser Weise Kunden und aus Vereinsleistungen Kurse. Gerade sitzt Braun an einer neuen Studie für den Deutschen Fußball-Bund. Er untersucht die Probleme der Vereine in Berlin. Noch ist die Studie nicht abgeschlossen, aber eines kann er schon sagen: „Der Druck, ehrenamtliche Trainer und Betreuer zu gewinnen, ist sehr groß. Es ist ein ernstes Zukunftsproblem.“