Neonazi-Opfer: Orazio Giamblanco kämpft mit dem Alter
1996 hat ein Skinhead den Italiener Orazio Giamblanco beinahe totgeschlagen. Einmal im Jahr besucht der Tagesspiegel das schwer behinderte Opfer. Der heute 71-Jährige quält sich von Jahr zu Jahr mehr durchs Leben. Wie Sie für Giamblanco spenden können, erfahren Sie im Artikel.
Die dunklen, stählernen Jogging-Hometrainer stehen in einer Linie, als seien die Geräte zur Parade angetreten. Frauen und Männer hasten, es wird gekeucht und gehechelt. Die meisten sind ganz schön schnell, auf Köpfen und Armen glänzt ein Schweißfilm. Wahrscheinlich sehen die Dauerrenner gar nicht, was um sie herum passiert. Es geht um individuelle Leistung, um Ausdauer, um gesteigerte Fitness. Um all das geht es dem alten Mann, der auf dem Gummiboden vor den Apparaten entlangzuckelt, allerdings auch. Er nimmt vermutlich ebenso wenig die Jogger wahr, die da leicht erhöht laufen. Der Mann interessiert sich aber nicht für deren Fitnessapparate. Sein Trainingsgerät sieht anders aus.
Mit einem Rollator ruckelt der Mann an der Parade vorbei. Sein linkes Bein steckt in einer Stahlschiene. Das rechte Bein zuckt voran, dann schleift das linke hinterher. Die Hände umklammern die Griffe des Rollators, die hinteren Räder sind mit Bremsen blockiert. Wären sie gelöst, hätte der Mann an dem Rollator zu wenig Halt. Das Gerät könnte ausbrechen, der Mann würde stürzen. Und käme von alleine nicht wieder hoch.
Jeder kämpft seinen Kampf in der Halle von „Fitness First“ in Bielefeld. Die Jogger und der alte Mann. Sie verbindet mehr, als der Anblick vermuten lässt, der Kontrast zwischen einem krummen, alten Körper mit stahlgeschientem Bein und den sportlichen Leibern. Da ist ein ähnlicher Wille zur Selbstüberwindung, die Hingabe bis zur Erschöpfung. Vielleicht ist der Mann sogar den Joggern mental überlegen. Denn er kämpft nicht, weil er Lust dazu hat. Er ringt mit sich selbst, um überhaupt laufen zu können.
Vor mehr als 16 Jahren traf ein Baseballschläger Orazio Giamblanco am Kopf. Der Italiener ist seit dem Angriff eines rechtsextremen Skinheads in der Kleinstadt Trebbin, südlich von Berlin, schwer behindert. Der Kahlkopf und „Kameraden“ hatten aus rassistischem Hass Italiener gejagt, die wie Giamblanco auf einer örtlichen Baustelle arbeiteten. Giamblanco war erst kurz vor dem Überfall nach Trebbin gekommen, aus Bielefeld, wo er eine Pizzeria betrieben hatte, die er aufgeben musste. Und auf den finanziellen Ruin folgte der Schlag mit der Baseballkeule.
Spenden Sie für Orazio Giamblanco. Alle Informationen dazu finden Sie hier.
Giamblanco, heute 71 Jahre alt, lebt wieder in Bielefeld, zusammen mit seiner griechischen Lebensgefährtin Angelica Berdes und deren Tochter Efthimia. Er ist in seinem lädierten Körper und seiner nicht minder ramponierten Seele eingequetscht wie ein Autofahrer, der nach einem Unfall in einem demolierten Wagen steckt. Spastische Lähmung, Sprachstörungen, Depressionen und ein Magen, der mehr denn je streikt. Weil er im Körper von Orazio Giamblanco, der viel Zeit im Rollstuhl sitzt, eingeengt und zu wenig bewegt wird.
Die Probleme mit dem Magen und der Verdauung schwächen den Italiener. Umso häufiger fehlt ihm die Kraft, aus dem Rollstuhl aufzusteigen und mit dem Rollator kleine Schritte zu üben. So wird Giamblancos Magen noch öfter im Rollstuhl eingedrückt. Ein Teufelskreislauf. Giamblanco hat in diesem Jahr sichtbar abgenommen. Und doch schafft er es an diesem Tag bei Fitness First, als der Besucher aus Berlin zuschaut, an der Home-Trainer-Parade vorbeizuziehen. Für die 30 Meter bis zum stählernen Seilzuggerät braucht er eine halbe Stunde. An dem Apparat zieht Giamblanco dann einen Bügel herunter, an dem Gewichte hängen. An drei, vier Tagen pro Woche kommt Giamblanco für gymnastische Übungen in die Halle. Ein Sport- und Gesundheitstrainer, bullig, freundlich, Ex-Fallschirmjäger, hilft und ermuntert.
Giamblancos körperlicher Zustand belastet die Familie immer mehr
Die Geschichte von Orazio Giamblanco ist im Tagesspiegel auch eine Art Dauerlauf. Ein halbes Jahr nachdem am 30. September 1996 der Skinhead Jan W. den italienischen Hilfsbauarbeiter fast totgeschlagen hatte, besuchte die Zeitung Giamblanco das erste Mal. Er lag in einer neurologischen Spezialklinik im niedersächsischen Coppenbrügge. Zunächst lange reglos und wortlos. Seit dem April 1997 wird Giamblancos Geschichte jedes Jahr weitergeschrieben, als Langzeitstudie über das Schicksal eines Opfers rechtsextremer Gewalt – in den Jahren nach den Schlagzeilen zur Tat, wenn die Öffentlichkeit den Fall längst vergessen hat. Giamblanco ist eines von mutmaßlich mehr als 10 000 Opfern, die seit der Wiedervereinigung von Neonazis und anderen Rassisten attackiert wurden. Mindestens 148 Menschen haben die Gewaltexzesse, ob auf der Straße oder bei den heimtückischen Anschlägen der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“, nicht überlebt. Die Bundesregierung spricht, gestützt auf Zahlen der Polizei, von lediglich 63 Toten.
Orazio Giamblanco lebt. Das heißt: Er quält sich durchs Leben. „Jedes Jahr war schlimm“, sagt Efthimia Berdes, als Giamblanco vom Fahrdienst des Roten Kreuzes zu seiner Wohnung zurückgebracht worden ist. Aber dieses Jahr, sagt die 38-jährige, weiterhin ledige Frau, sei das schlimmste.
Kurz nach Ostern waren die drei noch auf Sizilien gewesen, von hier kam Giamblanco 1961 nach Deutschland. Die Reise konnten er und die beiden Frauen sich leisten, da viele Leserinnen und Leser des Tagesspiegels gespendet hatten, wie immer nach der jährlichen Reportage. „Sicilia war gut“, sagt Giamblanco mit seiner leisen, oft nur schwer zu verstehenden Stimme. Die mediterrane Heimat, die Wärme, die Scherze mit den Taxifahrern, das Essen – das hat ihm gutgetan, den Frauen auch. „Orazio kam lustig aus dem Hotel, die Taxifahrer grüßten ihn, ich habe mich gefreut“, sagt Angelica Berdes. Die kleine, zierliche Griechin, Anfang 60, pflegt Giamblanco seit dem „Unfall“, wie sie den rechtsextremen Angriff nennt. Berdes gab damals ihren Job auf, um den behinderten Mann zu betreuen, rund um die Uhr. Auch mit Hilfe von Tochter Efthmia ist die Fürsorge schwere Arbeit.
„Ich hebe Orazio seit 16 Jahren aus dem Bett und bringe ihn zur Toilette“, sagt Angelica Berdes, „auch nachts, manchmal viermal“. Das ist nur ein Ausschnitt vom Alltag. Die Frau ist geschafft, überlastet, vor zwei Jahren war eine Leistenoperation nötig. Sie leidet unter Bluthochdruck, sie hat Depressionen, Rückenschmerzen, sie geht regelmäßig zum Psychiater. „Aber jetzt“, sagt Berdes, „ist es noch schlimmer geworden“.
Nach der Rückkehr aus Sizilien verschärften sich Giamblancos Probleme mit Magen und Verdauung, unter denen Giamblanco seit dem Überfall sowieso schon litt. Vielleicht hat er diesmal den Abschied von Sizilien schwerer verkraftet als sonst. „Immer mehr Probleme mit dem Essen und mit der Toilette“, sagt Angelica Berdes. „Er kann kein Fleisch mehr essen, ich mache nur noch Brokkoli- Suppe und Spaghetti“. Im Sommer war selbst das zu viel. „Wir sind ins Krankenhaus rein, wir sind aus dem Krankenhaus raus, wir sind wieder rein“, sagt Angelica Berdes. Neben ihr sitzt Giamblanco und schweigt. Dann hebt er den Kopf, „ich habe oft Appetit, aber geht nicht“. Er habe ungefähr zehn Kilo abgenommen. Man sieht es ihm an. Der Bauch ist kleiner als im letzten Jahr. Und die Gesichtszüge wirken noch starrer.
Giamblanco und die beiden Frauen hadern mit dem Schicksal, dass sich nicht mehr wenden lässt und dem sie immer weniger gewachsen sind. Und so hadern sie auch mit ihrem Hausarzt, der keinen Fortschritt herbeizaubern kann und nicht jedes Medikament verschreiben will. Sie hadern mit den Leuten vom Roten Kreuz, die sauer sind, wenn ihr Fahrdienst umsonst zu Giamblanco kommt, der aber die Toilette nicht verlassen kann und die Gymnastik bei Fitness First ausfallen lassen muss. Und sie haben sich mit ihrem früheren Physiotherapeuten zerstritten, obwohl er Giamblanco so weit anspornte, dass ein paar wacklige Schritte ohne Krücken möglich waren.
In ihrer Verzweiflung streiten sich Orazio Giamblanco und die beiden Frauen auch untereinander mehr als früher. Obwohl sie so stark zusammenhalten, wie das heute wohl eher selten ist. Aber die Kräfte lassen nach, auch psychisch. „Langsam sagt man, man kämpft umsonst“, Efthimia bricht den Satz ab.
Über Tat und Täter will Giamblanco nicht mehr viel sagen
Einer, der gesund ist und stark, der aber auch hadert, ist der Täter, der Schläger von 1996. Jan W. wurde für die Tat vom Landgericht Potsdam zu 15 Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis sagte er sich von der rechten Szene los. Er ist längst wieder draußen, er ist als Ein- Mann-Baufirma tätig. Jan W., mit 38 Jahren so alt wie Efthmia, kommt so einigermaßen zurecht. Aber die Tat belastet ihn weiter, auch wenn er ein bisschen Seelenfrieden zurückgewann, als Giamblanco und die Frauen seine Entschuldigung akzeptieren, die er 2006 in zwei langen Briefen formuliert hatte.
Am Jahrestag der Tat, sagt Jan W., „bin ich wie jedes Mal zu meinem kleinen See gefahren und hab’ meine Emotionen rausgelassen“, er zögert. „Ich schrei’ alles raus“. Spaziergänger hätten komisch geguckt. Er hoffe, sagt Jan W., „dass es Herrn Giamblanco, Frau Berdes und ihrer Tochter ein bisschen besser geht“.
Über Tat und Täter wollen Giamblanco und die Frauen nicht mehr viel sagen. Sie hoffe, dass Jan W. „wirklich kapiert hat, dass er das Leben von drei Leuten zerstört hat“, sagt Efthimia. Und dann erzählt ihre Mutter eine Geschichte, die unfassbar erscheint. Vor einem Monat wäre Giamblanco beinahe wieder Opfer einer Gewalttat geworden. Er fuhr mit seinem Elektrorollstuhl zum Markt, „ich war etwas dahinter“, sagt Angelica Berdes. Auf einer Bank hätten zwei Männer gesessen und getrunken. Einer habe ausgeholt und eine Weinflasche nach Orazio geworfen. Sie flog knapp am Kopf, den vor 16 Jahren beinahe eine Baseballkeule zertrümmert hätte, vorbei. „Die Flasche fiel auf den Boden, der Rollstuhl ist über die Splitter und ein Reifen war platt“, Angelica Berdes klingt auch jetzt noch verstört. „Wie kann das sein, dass man eine Flasche auf einen Mann schmeißt, der im Rollstuhl sitzt?“ Sie seien sofort umgekehrt, mit dem kaputten Reifen sei Orazio langsam zur Wohnung zurückgefahren. Auf einen Anruf bei der Polizei habe sie verzichtet, sagte Berdes, „die Männer von der Bank waren bestimmt schon weg“, sie hatte auch keine Kraft dazu. Aber sie meiden den Platz jetzt. „Ich geh’ da nicht mehr hin“, sagt Giamblanco.
Was bleibt einem da noch, wenn selbst das beschauliche Bielefeld einen hässlichen Flecken bekommt? Es sind kleine Gesten, die vom Elend ablenken. Da ist die 92 Jahre alte, aber vitale Nachbarin, die öfter vorbeischaut und gerne mal einen selbst gebackenen Apfelkuchen mitbringt. Und dann ist da der immerwährende Traum, der einen Namen hat. „Möchte wieder nach Sicilia“, sagt Orazio Giamblanco. Er lächelt kurz. Nächstes Jahr will er wieder hin. Die Frauen auch. „Vielleicht geht es da mit seinem Magen wieder besser“, sagt Angelica Berdes. „Das wäre gut für uns drei.“
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