Bombardier wird von Alstom übernommen: Ohne Kurzarbeit durch Corona - und nun die Fusion
Der Schienenfahrzeughersteller Alstom darf Bombardier übernehmen. Es ist die zweite Herausforderung für 2500 Beschäftigte im Hennigsdorfer Werk - nach Corona.
Corona ist für alle Konzerne eine gigantische Herausforderung. Bombardier kämpft ab sofort mit einer weiteren: Am Freitag hat die EU-Kommission erlaubt, dass der französische Konkurrent Alstom die Schienensparte von Bombardier übernimmt – es geht um sechs Milliarden Euro und um Auflagen.
Eine dieser Auflagen betrifft die Region Berlin-Brandenburg: In Hennigsdorf, nahe der nördlichen Berliner Stadtgrenze, bauen 2500 Menschen Züge zusammen – vom ICE über Regionalbahnen bis hin zu U-Bahnen und Straßenbahnen.
Ein wichtiges Standbein des Standortes muss verkauft werden, nämlich die Fertigung der sogenannten Talent-3-Züge. So stand es seitdem in den Medien. Doch was bedeutet das für Hennigsdorf, dem größten deutschen Standort von Bombardier Transportation? Erste Meldungen über die Fusion hatte es im Februar gegeben.
Etwa vier verschiedene Szenarien seien denkbar, heißt es im Unternehmen. Sie beunruhigen die Belegschaft unterschiedlich stark. Der neue Käufer könnte die Halle übernehmen, die allerdings mitten auf dem riesigen Werksgelände steht.
Sie wurde vor zwölf Jahren für diesen Zug-Typ neu gebaut. Schwer vorstellbar, wenn ein Konkurrent auf dem Betriebsgelände unterwegs ist. Fotografieren ist normalerweise in Hennigsdorf verboten, denn hier wird überwiegend geforscht und entwickelt. Für den Werksbesichtigungstermin für Journalisten wurde am Dienstag eine Ausnahme gemacht.
Möglich wäre auch, die Talent-Fertigungsstände innerhalb des Geländes in eine andere Halle zu versetzen, der Werkszaun könnte so umgebaut werden, dass ein exterritoriales Gelände entsteht. Vor den Varianten drei und vier haben die Beschäftigten jedoch am meisten Sorge: Dass die Talent-Produktion in eine andere Stadt verkauft wird, oder dass sich gar kein Käufer findet.
Nach dem derzeitigen Stand sieht es jedoch gut aus. In der Branche heißt es, dass der Schweizer Hersteller Stadler, der in Pankow Straßen- und U- Bahnen baut, Interesse an der Talent-Fertigung hat. Stadler hat in diesem Jahr den drei-Milliarden-Auftrag für die neuen Berliner U-Bahnen erhalten.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
„Wir verhandeln mit mehreren Käufern“, sagte Bombardier-Sprecher Jörn Bischoff , die Verhandlungen seien vertraulich. Die Entscheidung solle so schnell wie möglich fallen, „eine belastbare Zeitschiene“ gebe es aber nicht, ergänzte Bischoff. In der Produktion gibt es rund 450 Arbeitskräfte, davon knapp 200 in der Talent-3-Fertigung. Die meisten in dem Werk in Hennigsdorf, nämlich etwa 2000 Beschäftigte, sind Ingenieure, Designer und Entwickler.
Der neue Deutschlandchef von Bombardier, Marco Michel, spricht lieber über die Erfolge des vergangenen halben Corona-Jahres. „Wir konnten ohne Kurzarbeit weiterarbeiten“, sagte Michel, der erst zum 15. Juli den bisherigen Chef, Michael Fohrer, zunächst kommissarisch abgelöst hatte. Und: Unter den 2500 Beschäftigten habe es nicht einen einzigen Covid-19-Infizierten geben. Ein Erfolg – auch der strengen Kontrollen: Besucher dürfen das Werk nur nach Befragung und Temperaturcheck – wie am Flughafen – betreten. Zudem hätten die Kunden mit Zügen beliefert werden können, was keine einfache Sache ist, wenn ein Subunternehmen eines deutschen Zulieferers wiederum Teile in China produzieren lässt.
Probleme habe es allerdings gegeben mit den Sitzen für die ICE-4-Züge für die Deutsche Bahn. Auch diese werden in Hennigsdorf gefertigt, und zwar gemeinsam mit Siemens. Hier habe man sich innerhalb des Konsortiums ausgeholfen, sagte Michel. Tatsächlich ist es in der Branche normal, dass Siemens, Alstom, Stadler und Bombardier je nach Zug mal mit dem einen, mal mit dem anderen kooperieren. Die neue S-Bahn für Berlin wird zum Beispiel von Stadler und Siemens gemeinsam gebaut.
[Jetzt noch mehr wissen: Mit Tagesspiegel Plus können Sie viele weitere spannende Geschichten, Service- und Hintergrundberichte lesen. 30 Tage kostenlos ausprobieren: Hier erfahren Sie mehr und hier kommen Sie direkt zu allen Artikeln.]
In der riesigen Halle 74 arbeiten an diesem Dienstagvormittag nur etwa 70 Menschen an vier verschiedenen Produkten, beschreibt Betriebsrat Heiko Engelmann. Außenstehende denken oft, dass es viel mehr Menschen bräuchte, um einen Zug zusammenzubauen. Allerdings habe man wegen Corona die Produktion auf zwei Schichten verteilt, deshalb begegnen sich nicht mehr so viele Menschen, sagt Engelmann. In Halle 74 werden auch die „Flexity“ Straßenbahnen für die BVG endmontiert: Das sind die Fahrzeuge mit der markant-runden Front. 210 Züge hatten die Berliner Verkehrsbetriebe bestellt, Nummer 203, ein siebenteiliger-Zug, steht derzeit in der Halle. Dieser Auftrag wird also in wenigen Monaten abgearbeitet sein.
Ersatz steht auf dem Gleis nebenan: Ein Zug für die „rote Linie“ der Stockholmer U-Bahn. Seit April wurden die ersten sechs Züge vom Typ Movia C30 abgeliefert, insgesamt soll Bombardier 96 vierteilige Züge produzieren, viel Arbeit also für die Mitarbeitenden. Die Züge wurden für das Design sogar preisgekrönt und hier in Hennigsdorf entwickelt. Am anderen Ende der Halle stehen Fahrzeuge im klassischen Rot des DB-Nahverkehrs sowie welche der Baureihe 490 für die Hamburger S-Bahn und der Baureihe 430 für die Region Stuttgart. In Halle 71 werden die Talent-3-Regionalzüge zusammengebaut – derzeit für den Bahnkonkurrenten Abellio, der zum Beispiel im Auftrag des Landes viele Linien in Sachsen-Anhalt fährt.
Die Baureihe 430 entsteht in Kooperation mit Alstom, erzählt Manager Sven Löffler. Er ist für das Engineering verantwortlich – und für den 3D-Druck. Im vergangenen Jahr sei intensiv in diese neue Technik investiert worden, dies sei „jetzt ein großer Vorteil“, sagt Löffler. Denn so ein 3D-Drucker verringere die Abhängigkeit von Zulieferern. Teile der Innenausstattung und der Karosserie, wie Luftkanäle, Gehäuse und Kabelhalter, werden vollautomatisch gedruckt. Das dauere zwar pro Teil bis zu fünf Tage, senke aber Lagerkosten. „In der wilden Zeit“, also zu Beginn von Corona, habe man mit den Druckern für die Belegschaft Plexiglasmasken produziert – ein Baustein, um gut durch die Coronakrise zu kommen. Kaufen konnte man die Masken damals nicht, erinnert sich Löffler. Denn auch wenn Designer und Ingenieure ins Homeoffice wechseln konnten: Zusammengebaut wird ein Zug immer noch per Hand.
Die ersten Loks entstanden ab 1913 von AEG in Hennigsdorf, zu DDR-Zeiten war es der VEB „Hans Beimler“. In den 30 Jahren nach der Wende haben erst die AEG, dann Adtranz und seit 2001 Bombardier das Sagen gehabt. Bald ist es der nächste Konzern: Alstom.