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Vor den Toren Berlins. Charlottenburg war vor Eingemeindung 1920 eine wohlhabende, selbstständige Stadt - mit einem U-Bahn-Anschluss. Kein Wunder, dass sich hier die Begeisterung für die Groß-Berliner Fusion vor 90 Jahren in Grenzen hielt.
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Groß-Berliner Fusion: Nur Los Angeles war größer

Vor genau 90 Jahren entstand das Berlin in seinen heutigen Grenzen – auf Betreiben einer roten Regierung. Um die Eingemeindung von sieben Städten und Dutzenden Dörfern tobte ein heftiger Streit.

Es war ein Freitag, als in Wilmersdorf das Abendland unterging. Zum Abschied richtete der Leitartikler des Lokalblattes noch „Ein Wort an alle Muß-Berliner“, es begann mit der Feststellung: „Von heute an hören wir auf, Wilmersdorfer, Schöneberger, Charlottenburger zu sein. Wir sind kraft jenes Gesetzes, das sein Zustandekommen einer Zufalls-Parlaments-Mehrheit verdankt, Muß-Berliner geworden. In allen entscheidenden Fragen werden wir uns dem Diktat des roten Berliner Magistrats zu fügen haben. Einstweilen wenigstens, bis die rote Militärwirtschaft abgewirtschaftet haben wird und an Stelle der Gesinnungslosigkeit wieder andere Faktoren den Ausschlag geben werden.“

Das war damals, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, eine in der politischen Elite weit verbreitete Geisteshaltung. Jedenfalls in wohlhabenden Vororten wie Wilmersdorf, Charlottenburg, Wannsee oder Spandau, die auf einmal keine Vororte mehr waren, sondern Teil einer Einheitsgemeinde. Vor 90 Jahren, am 1. Oktober 1920, trat das „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“ in Kraft. Ein sperriger Name. Der Volksmund sprach vom Groß-Berlin-Gesetz, weil aus einer Stadt mit überschaubaren Grenzen das entstanden war, was Fritz Lang später als Metropolis auf die Leinwand brachte. Durch die Eingemeindung von sieben Städten, 59 Landgemeinden und 72 Gutsbezirken wuchs das Stadtgebiet um das Dreizehnfache auf 878 Quadratkilometer, die Bevölkerung verdoppelte sich auf 3,8 Millionen Menschen. Ein parlamentarischer Federstrich machte aus Berlin die flächenmäßig zweitgrößte Stadt der Welt (hinter Los Angeles) mit den drittmeisten Einwohnern (hinter London und New York).

Die Bürger im reichen Schöneberg und Wilmersdorf hatten Angst vor der Fusion

Bahnhof Zoo und Ku'damm, das heutige Olympiastadion und KaDeWe – Orte, die heute jeder mit Berlin in Verbindung bringt, lagen vor dem 1. Oktober 1920 jenseits der Stadtgrenzen. Ohne das Groß-Berlin-Gesetz hätten Emil und die Detektive den Schurken Grundeis durch vier verschiedene Städte jagen müssen, was sich wegen der jeweils neu zu lösenden Fahrscheine recht umständlich gestaltet hätte, denn jede Gemeinde hatte ihr eigenes Verkehrsunternehmen und Tarifsystem. Allein am Nollendorfplatz stießen drei Großstädte aneinander: Schöneberg, Charlottenburg und eben Berlin. Organisch war die Stadt längst zusammengewachsen, aber administrativ herrschte ein Zustand wie heute im Ruhrgebiet, wo der Mülheimer von der einen Straßenseite den Oberhausener auf der anderen grüßt. „Um 1900 bestand bei den 151 Städten und Gemeinden im Berliner Raum ein Nebeneinander von 43 verschiedenen Gas-, 17 Wasser- und 15 Elektrizitätswerken“, schreibt der Stadthistoriker Herbert Schwenk. Und: „Während der Tegeler See zum Beispiel Berlin als Trinkwasserreservoir diente, leiteten die Gemeinden Reinickendorf und Tegel ihre Abwässer in den See.“

Ländlich. Auch Dörfler wie Tempelhof - hier ein historische Postkarte mit Blick auf die Kirche - gehörten über Nacht zur Großstadt Berlin.
Ländlich. Auch Dörfler wie Tempelhof - hier ein historische Postkarte mit Blick auf die Kirche - gehörten über Nacht zur Großstadt Berlin.
© bpk / Dietmar Katz

Stadtplanung war bis in das 20. Jahrhundert hinein eine Art Monopoly-Spiel. Das noch heute sichtbare Stadtbild geht zurück auf den Hobrechtplan, benannt nach dem preußischen Stadtplaner James Hobrecht. In der Folge entstanden im Norden und Osten riesige Wohngebiete, die mit dichtestmöglicher Bebauung den Investoren maximale Profite garantierten und „vier Millionen künftiger Berliner zum Wohnen in Behausungen verdammte, wie sie sich weder der dümmste Teufel noch der fleißigste Berliner Geheimrat oder Bodenspekulant übler auszudenken vermochte.“ So hat es Werner Hegemann in seinem Buch „Das steinerne Berlin“ beschrieben. Heinrich Zille hat dieses Milieu gezeichnet, zum Beispiel „Meyers Hof“, die berüchtigte Mietskaserne an der Weddinger Ackerstraße. Sechs Quergebäude mit insgesamt 257 Wohnungen, von denen die Hälfte Außentoiletten hatte und die andere gar keine.

Das vor dem Einfluss eines mächtigen Berlin zurückschreckende Preußen hintertrieb bis zum Ende des Kaiserreichs alle Annäherungsversuche zwischen der Stadt und ihrem Umland. Der 1912 gegründete Zweckverband Groß-Berlin mit den Städten Berlin, Neukölln, Lichtenberg, Charlottenburg, Schöneberg, Cöpenick (mit C wie zu Schuster Voigts Zeiten), Wilmersdorf und Spandau sowie den Landkreisen Teltow und Niederbarnim war kaum mehr als ein Notbehelf. Ein Spandauer Abgeordneter dichtete zur Einweihung des Rathauses: „Mög' schützen uns des Kaisers Hand vor Groß-Berlin und Zweckverband.“

Erst die veränderten Mehrheiten nach dem Ersten Weltkrieg machten den Weg frei für das Groß-Berlin-Gesetz. Über die Parzellierung des neuen Gemeinwesens wurde lang debattiert. Rosenthal und Neukölln sprachen sich für eine Eingemeindung aus, Reinickendorf ersuchte das Innenministerium schriftlich darum, sie „so schleunig wie möglich herbeiführen zu wollen“, Spandau hingegen beschwerte sich: „Die Stadt Spandau soll trotz einmütigenden Protestes ihrer Selbständigkeit beraubt und ohne zwingenden Grund eingemeindet werden.“ Bernau wäre gern dabei gewesen, durfte aber nicht. Charlottenburg und Wilmersdorf warben vergeblich für eine Vorortgroßstadt mit Steglitz, Friedenau, Schmargendorf und Grunewald.

Schnell bürgerte sich der Name "Groß-Berlin" ein - geplant war das nicht

Es gab aber auch auf westlicher Seite ein treibendes Element der Einheitsgemeinde, den Schöneberger Oberbürgermeister Alexander Dominicus, der mit dem bestechenden Blick für die Realität eines aus Strasburg Zugewanderten erkannte, dass rund um Berlin „eine Gemeinde der anderen das Wasser abgräbt“. Am Ende gestaltete sich Berlins Weg zur Weltstadt eine Revolution von oben. Die Bürgerbeteiligung war noch nicht erfunden. Treibende Kraft war Berlins Oberbürgermeister Adolf Wermuth, der den Gesetzentwurf mit dem preußischen Innenministerium auskungelte. Als Maßstab diente ein Zuruf von Innenminister Wolfgang Heine: „Groß-Berlin kann gut auf ein Jahrhundert im Voraus zugeschnitten werden!“

Die namentliche Abstimmung in der Preußischen Landesversammlung war eine dramatisch Angelegenheit. In zwei Lesungen fand das Gesetz keine Mehrheit. Unversöhnlich standen sich SPD und USPD als Befürworter sowie Deutsch-Nationale, Deutsche Volkspartei und Zentrum als Gegner der Einheitsgemeinde gegenüber. Die entscheidende Abstimmung war für den 27. April 1920 im Preußischen Landtag angesetzt. Von den 402 Abgeordneten fehlten 84, davon 67 unentschuldigt. Vor allem das katholische Zentrum stellte sich mittels Fernbleiben indirekt auf die Seite der Mehrheit von 165:148 Stimmen.

Ein historischer Blick vom Wittenbergplatz auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Ein historischer Blick vom Wittenbergplatz auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
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Bürgerliche Kreise fürchteten, wie der Wilmersdorfer Leitartikler, ein „Diktat des roten Magistrats“, der sozialdemokratische „Vorwärts“ feierte „die Fanfare für das neue Berlin“, und manch einer gab zu verstehen, wie fremd ihm wie Heimat geworden war. Kurt Tucholsky notierte 1920: „Diese vielgelästerte Stadt, unbeliebt in der Provinz, verhasst aus ganz falschen Ursachen – diese Stadt ist weniger einheitlich denn je. In den Bilderbüchern und auf den Operettenbühnen lebt sie noch, wie sie dunnemals war. Alles, alles ist härter geworden, und jener blanker Witz – der ist dahin.“

Obwohl dieser Name im Gesetzesentwurf gar nicht vorgesehen war, bürgerte sich der Begriff „Groß-Berlin“ ein, auch im Briefkopf des Magistrats. Die neue Gemeinde wurde in 20 Bezirke aufgeteilt. Die wenigsten Menschen wohnten in Zehlendorf (33 043), die meisten in Wedding (337 193), wo das neu zu bildende Bezirksamt aber vor einem Problem stand: Es gab kein Rathaus, so dass die Verwaltung in einem Ledigenwohnheim Quartier bezog.

Eine "zusätzliche Frischgemüsezufuhr" sollte eine geplante Ausweitung zum Autobahnring bringen

Aus den 20 Bezirken sind zwischenzeitlich 23 und mittlerweile, durch die Verwaltungsreform von 2001, zwölf geworden. Das Weichbild der Stadt aber ist, abgesehen von minimalen Änderungen, seit 1920 unverändert. Die letzte dramatische Änderung hatte die Politik kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ins Auge gefasst. Am 20. März 1947 sprach sich die Stadtverordnetenversammlung dafür aus, das Stadtgebiet bis zum Berliner Autobahnring zu erweitern, „um der Bevölkerung eine zusätzliche Frischgemüsezufuhr zu gewährleisten“. Verhandlungen mit dem Land Brandenburg, das damals unter sowjetischer Verwaltung stand, fanden ebenso wenig erfolgreiches Ende wie, unter anderen politischen Voraussetzungen, die Abstimmung über eine Länderfusion Berlin-Brandenburg.

Und Wilmersdorf? Ist doch nicht rot geworden, ja vielleicht ausgerechnet durch das verhasste Groß-Berlin-Gesetz davor bewahrt worden. Das kleine Alt-Berlin wäre den Alliierten wohl kaum den Aufwand eines Vier-Mächte-Status wert gewesen und wahrscheinlich, wie seine westlichen Vororte, komplett an die sowjetische Zone gefallen.

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