Selbstständige in Berlin: Null Bock auf Boss
Die Berliner Unternehmerinnen Catharina Bruns und Sophie Pester kämpfen für eine neue Arbeitskultur. Und gegen die staatliche Gängelung von Selbstständigen.
Wer Catharina Bruns und Sophie Pester im Büro besucht, landet in ihrem Wohnzimmer. Ein großer, heller Raum mit Parkett und angeschlossener Wohnküche in einem Haus an der Grenze zwischen Friedrichshain und Kreuzberg. Nicht nur die Wohnung, sondern auch den Job teilen? „Viele verstehen das nicht“, gibt Bruns (im Bild rechts) zu.
Doch sie stört es nicht, dass in ihrem Leben die Grenzen zwischen Arbeitstag und Freizeit verschwimmen. Im Gegenteil: „Work Is Not A Job“, heißt der Titel von Bruns erstem Buch; einem Plädoyer für die Selbstständigkeit, in dem sie eine neue Haltung zur Arbeit fordert. Eine, die von Freiheit und Selbstbestimmung geprägt ist.
Und die beiden Unternehmerinnen geben sich alle Mühe, nach diesem Credo auch zu leben. Was aber bedeutet das? „Dass ich über meinen Tag und über die Inhalte meiner Arbeit selbst bestimmen kann“, sagt die 38-jährige Bruns. „Wir sind ja nicht so frei, dass wir gar keine Verpflichtungen mehr haben“, räumt ihre Geschäftspartnerin Pester, 35, ein. „Trotzdem können wir uns unsere Abhängigkeiten selber aussuchen. Welche Kooperationen wir eingehen, mit welchen Herstellern wir arbeiten wollen.“
Die Berliner Unternehmerinnen haben 2012 „Supercraft“ gegründet: Bastel-Kits, die auf dem Do-It-Yourself-Gedanken basieren, und per Post einzeln oder im Abo verschickt werden. Es folgten die Design-Plattform „Lemon Books“ und das gemeinsame Buch „Frei sein statt frei haben“.
Vor allem aber beraten sie Menschen, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen wollen – oder ihn bereits gewagt haben. Viel Arbeit, keine finanzielle Sicherheit und das unternehmerische Risiko: „Die Selbstständigkeit hat in Deutschland kein so gutes Image“, sagt Bruns. Das zu ändern ist ihre Mission. Dafür geht sie auf Bühnen, dafür schreibt sie Bücher.
Während Gründungen im Bund abnehmen, bleibt die Zahl in Berlin stabil
Gerade in der Hauptstadt dürfte die Botschaft der beiden verfangen. In Berlin zählte das Amt für Statistik 2016 rund 226 000 Selbstständige, was einem Anteil von 11,9 Prozent an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen entsprach. In der Restrepublik lag die Zahl der Selbstständigen lediglich bei 9,9 Prozent.
Bruns und Pester zählen dabei zum vergleichsweise kleinen Teil der Solo-Selbstständigen, der relativ hohe Einkünfte erzielt. Das durchschnittliche Einkommen von Selbstständigen liegt hingegen unter dem der Arbeitnehmer. Viele kommen über Einkünfte aus dem Niedriglohnsektor nicht hinaus. „Das ist jedoch kein Problem der Erwerbsform, sondern der schlechten Bildung“, sagt Alexander Kritikos, Forschungsdirektor im Bereich Entrepreneurship am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW).
Dennoch wagen immer noch viele Berliner den Schritt in die Selbstständigkeit. Das zeigte jüngst auch eine neue Studie des DIW-Forschers Kritikos: Während im Bund die Zahl der Gründungen seit Jahren sinkt, blieb sie 2016 in Berlin stabil. Je 10.000 Erwerbspersonen gab es in der Hauptstadt 201 Gründungen, das entspricht fast exakt dem Vorjahreswert.
Im Bund waren es mit 123 Gründungen deutlich weniger. „Dass Berlin seit Jahren Spitzenreiter beim allgemeinen Gründungsgeschehen ist, liegt vor allem an der hohen Gründungsbereitschaft der ausländischen Mitbürger“, erklärt Kritikos. Hier wurden im Jahr 2015 über 17.000 Betriebe von Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft gegründet, das entspricht einem Anteil von 47 Prozent.
Allerdings liegt Berlin bei der Gründung von innovativen, wissensintensiven Betrieben mittlerweile hinter München und Köln nur noch auf Platz drei, wie Kritikos erforscht hat. Das lässt sich unter anderem auf die gute Wirtschaftslage zurückführen, die dafür sorgt, dass potenziell Selbstständige eher eine Anstellung wählen.
Es sei aber auch an der Politik, Gründungen mit Innovationspotential durch bessere institutionelle und finanzielle Rahmenbedingungen zu unterstützen, mahnt der Forscher. Eine wichtige Maßnahme in diese Richtung wäre der Abbau von bürokratischen Hürden, sagt Kritikos.
Die meisten Berliner gründen ohne fremdes Geld
Aber auch bei der finanziellen Förderung der Selbstständigkeit muss noch nachjustiert werden. Öffentliche Darlehens- oder Beteiligungsprogramme richten sich häufig an die techaffine Start-Up-Szene, die medial zwar viel Aufmerksamkeit genießt, letztendlich aber nur einen kleinen Teil des Gründergeschehens ausmachen. Die meisten Berliner gründen hingegen ganz ohne fremdes Geld.
Auch Pester und Bruns kamen ohne Fremdkapital aus. Ihre Bastelboxen haben sich sofort selbst finanziert. Und auf Investoren verzichteten sie bewusst: „Wir hatten damals direkt zwei Termine bei potenziellen Geldgebern“, erinnert sich Pester. „Es ist ein gutes Zeichen, wenn jemand mitverdienen möchte“, sagt Bruns. „Wir hätten es so machen können, aber ich sage: Wir wären schon insolvent.“
Mit ihren „Supercraft“-Boxen hätten sie ein Nischenprodukt auf den Markt gebracht, das sich sehr gut entwickele, aber von einem Millionengeschäft weit entfernt sei. „Es gibt natürlich Konzepte und Produkte, die brauchen Kapital“, sagt Bruns. Aber: „Viele Start-Ups haben gar kein Geschäftskonzept“, meint sie. „Pitchen können ist keine unternehmerische Leistung!“
Bruns wollte daher anders gründen: Keine Investoren reinholen, keine Strukturen aufbauen, aus denen sie selbst einst geflohen war. „Ich wollte nicht Arbeitgeberin oder Chefin spielen.“ Stattdessen lebt sie das, woran sie glaubt: Entrepreneurship. Diesen französisch-englischen Kastenbegriff definiert sie frei nach Joseph Schumpeters Idee von der schöpferischen Zerstörung: „Es geht darum, das, was es schon gibt, neu zu ordnen. Und über ein kreatives Geschäftsmodell die Branche aufzumischen und alte Modelle aufzulösen.“
Der Unterschied zwischen der klassischen Selbstständigkeit und dem Entrepreneurship besteht für Bruns vor allem darin, dass Selbstständige im ersten Fall Dienstleister sind, abhängig von Auftraggebern oder Laufkundschaft, während sie im zweiten Fall ein Problem in der Gesellschaft erkennen und es über ein kreatives Geschäftskonzept lösen und sich so unabhängiger machen. „Selbstständig sein heißt, sich zuständig zu machen.“
Beim Entrepreneurship habe man die Möglichkeit, ressourcenarm zu gründen, beziehungsweise die Ressourcen anderer geschickt einzusetzen. Ein gutes Beispiel dafür sei das Unternehmen Flixbus, das selbst keinen einzigen Bus besitze, aber dennoch Marktführer bei Fernbussen sei. „Weil sie die Strukturen, die es gibt, intelligent nutzen“, sagt Bruns.
Das Produkt müsse gar nicht kreativ sein, sondern lediglich das Konzept. Als Alternative zur bestehenden Arbeitswelt streben Bruns und Pester deshalb eine zweite an, in der sich frei Arbeitende mit fairen Rahmenbedingungen gegenseitig finanzieren.
Versicherungsbeiträge belasten Selbstständige überproportional
An den fairen Rahmenbedingungen muss die Politik allerdings noch arbeiten. Eine große Baustelle sei die Diskriminierung in den Sozialversicherungssystemen, sagt Bruns. Tatsächlich müssen Selbstständige im Schnitt über 40 Prozent ihres Einkommens an die Krankenkasse zahlen.
Obwohl sie durchschnittlich nur knapp 800 Euro im Monat verdienen, bemisst sich ihr Beitrag nach einem fiktiven Monatseinkommen von 2283,50 Euro. „Die Beitragsbemessung für die gesetzliche Krankenkasse ist für Selbstständige eine Katastrophe“, sagt Bruns.
Den Bereich zwischen 450 Euro und diesem Betrag nennt man in der Branche die „Todeszone“, erklärt Andreas Lutz, Vorsitzender des Verbandes der Gründer und Selbstständigen Deutschlands (VGSD), der etwa 2000 Mitglieder in Berlin hat. Seine Forderung: Beiträge müssen einkommensabhängig sein, es darf keinen Mindestsatz geben. „In der Politik gibt es wenig Selbstständige“, sagt Lutz. Das Verständnis für diese Erwerbstätigkeit sei dementsprechend niedrig.
Bestes Beispiel sei die Gesetzgebung zur Scheinselbstständigkeit. In diesem Gebiet herrsche eine enorme Rechtsunsicherheit, weil das Gesetz handwerklich schlecht gemacht sei. Aus Angst, Selbstständige illegal für sich arbeiten zu lassen, vergeben Firmen Aufträge lieber ins Ausland.
Die potenzielle neue Große Koalition will das Scheinselbstständigkeitsgesetz 2019 evaluieren. Doch Hoffnung auf Besserung hat Lutz kaum. Dabei wäre es gar nicht so schwer: „Wir wollen nicht zu Angestellten gemacht werden, wir wollen nur faire Bedingungen.“