Interview mit dem Charité-Personalchef: „Not gibt es in fast allen Bereichen“
Der Personalratschef der Charité, Jörg Pawlowski, über die Folgen des Fachkräftemangels für die Patienten und Wege aus der Krise.
Über Weihnachten haben Deutschlands Klinikbetreiber den Pflegenotstand ausgerufen. Wie ist die Situation an der Berliner Charité?
Über die Feiertage derart Alarm zu schlagen, halte ich für nicht glücklich. Klar ist aber: Der Pflegenotstand ist da, und nicht erst seit gestern. Wir haben ihn seit Jahren. Und er ist selbst produziert.
Wie viele Pflegekräfte fehlen denn in Europas größtem Universitätsklinikum mit seinen 3000 Betten? Und in welchen Bereichen ist es besonders eng?
Das lässt sich leider nicht genau beziffern, da es ja keine Quote gibt, die in Bezug auf die Bettenzahl zugrunde gelegt werden könnte. Fakt ist, die Charité stellt permanent ein. Fast alle Fachrichtungen sind mehr oder weniger betroffen, wie aktuell die Kinderklinik.
Wie oft mussten in der Charité wegen fehlenden Personals schon Klinikbereiche gesperrt und Patienten abgewiesen werden?
Es gab vor Kurzem die Situation in der Kinderonkologie, dass eine Woche lang keine neuen Patienten mehr aufgenommen werden konnten. Das liegt auch daran, dass es sich dort um hoch spezialisierte Kräfte handelt, für die sich im Krankheitsfall nicht so einfach Ersatz auftreiben lässt. Ansonsten werden bei uns wie in nahezu allen Kliniken wegen Personalengpässen punktuell immer wieder Betten oder kleine Bereiche gesperrt.
Das Kinderkrebszentrum der Charité wurde geschlossen, weil zehn von 50 Pflegestellen unbesetzt waren. Ein singuläres Ereignis oder kann das wieder vorkommen?
Das hängt von der Situation ab. Wir hatten einen erhöhten Krankenstand. Und die dortigen Pflegekräfte kann man nicht so einfach ersetzen. Es wäre fahrlässig gewesen, in solcher Situation dennoch Patienten aufzunehmen, ohne sie adäquat versorgen zu können. Wenn wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden können, müssen wir so ehrlich sein und sagen: Es tut uns leid. Es ist ja nicht so, dass die Charité das einzige Haus in Berlin ist, das solche Krankheitsbilder behandelt.
Müssen Patienten Angst haben, in der Charité wegen fehlender Pflegekräfte schlecht versorgt zu werden?
Nein. Da lege ich für meine Kolleginnen und Kollegen die Hand ins Feuer. Die Pflegenden wissen um ihre Verantwortung. Das sind Profis. Und wenn etwas nicht läuft wie geplant, gibt es klare Informationsketten und Expertenteams, die zugezogen werden können. Allerdings: Dass wir in der Pflege nicht immer das Rundum-Wohlfühlpaket bieten können, weil schlicht die Zeit nicht da ist und dass an den Patienten zum Teil viel mehr psychosoziale Arbeit geleistet werden müsste, steht auf einem anderen Blatt.
Auch das psychosoziale Kümmern trägt zur Gesundung bei …
Ja, aber dieser Posten findet sich in keiner Fallpauschale. Das ist das, was viele Pflegende so stört und ärgert. Die Patienten sind herausgerissen aus ihrem sozialen Umfeld, nicht jeder hat ein medizinisches Grundverständnis, viele befinden sich in einer Situation voller Angst und Verunsicherung. Es wäre oberste Aufgabe der Pflege, dem entgegenzuwirken. Es ist traurig, dass wir und andere Kliniken hierzulande das derzeit kaum leisten können. Dabei wäre es sehr wichtig.
Zumal die Zahl verwirrter Patienten steigt.
Ja. Und bei fortgeschrittenem Alter und bestimmten Erkrankungen kann sich das Delir-Stadium nach Operationen tagelang hinziehen. Viele Kranke kommen ja nicht nur wegen ihrer Herzklappe. Die haben Diabetes, Gefäßerkrankungen, schlechte Augen …
Was halten Sie von den Pflegepersonal-Untergrenzen, die Gesundheitsminister Jens Spahn den Krankenhäusern verordnet hat? Erhöht das die Sicherheit der Patienten? Oder verschärft es die Situation, weil deshalb nun schneller Betten gesperrt und Patienten abgewiesen werden müssen?
Aus Sicht des Pflegepersonals halte ich diese Untergrenzen für eine Katastrophe. Man orientiert sich dabei nicht am Notwendigen, sondern an den Häusern mit der schlechtesten Personalausstattung. Nur ein Viertel der Kliniken muss der Regelung zufolge sein Personal aufstocken – und zwar auch nur so stark, um das zweitschlechteste Viertel der Kliniken zu erreichen. Das ist armselig.
Sie wünschen sich schärfere Vorgaben?
Die Charité-Mitarbeiter haben vor dreieinhalb Jahren als erste in Deutschland einen Tarifvertrag zu Gesundheitsschutz und Mindestbesetzung erstreikt. Dieser Vertrag hat klare Berechnungsgrundlagen. Er zeigt einen Weg auf, wie man eine solide, am Patientenbedarf orientierte Personalbesetzung vorhalten kann. Wenn man es denn will.
Dann brauchen Sie sich an den gesetzlich festgelegten Mindestpersonalgrenzen ja eigentlich nicht weiter zu stören ...
Bei der Einführung der Pflegeuntergrenzen konnte sich die Charité tatsächlich entspannt zurücklehnen, weil wir in den sogenannten pflegesensitiven Bereichen bereits gut aufgestellt waren. Allerdings haben wir wie alle anderen auch das Problem, dass erfahrene Pflegekräfte aus Altersgründen ausscheiden. Und dass man den Jungen diese Profession nicht mehr so als leuchtende Perspektive aufzeigen kann wie noch vor 20 oder 30 Jahren.
Was tun Sie denn an der Charité konkret gegen den Pflegenotstand?
Wie viele andere Häuser haben wir schon früh angefangen, Pflegepersonal im Ausland anzuwerben. Allerdings nur in Ländern, wo es genug Pflegekräfte gibt und sie nicht ausreichend honoriert werden, um eine Familie ernähren zu können.
Welche Länder sind das?
Wir sind aktiv in Albanien und Mexiko, neuerdings auch auf den Philippinen. Die Bewerbungsgespräche können gleich im Herkunftsland geführt, sogar die Verträge können dort unterzeichnet werden. Wenn die neuen Kolleginnen und Kollegen dann an der Charité sind, erhalten sie umfangreiche Unterstützung. Wir haben ein eigenes Integrationsmanagement. Es gibt sogenannte Willkommensstationen zur Einarbeitung, kostenlose Sprachkurse, Unterstützung bei der Wohnungssuche ...
Was ist wichtiger, um den Pflegeberuf wieder attraktiver zu machen – höhere Gehälter oder bessere Arbeitsbedingungen?
Ganz klar die Arbeitsbedingungen. Kein Mensch mit normalem Bürojob würde es sich gefallen lassen, nach einem Acht-Stunden-Tag abends angerufen und noch mal an seinen Arbeitsplatz beordert zu werden. Oder aus dem Wochenende geholt. Verlässliche Dienstplanung in angemessenem Verhältnis zur anfallenden Arbeit, darum geht es. Wenn ich den Beschäftigten zu viel draufpacke, wenn sie dadurch immer unzufrieden sind mit ihrem Tagwerk, werfen sie irgendwann hin. Auch Pflegende sind Berufstätige mit Familie und nicht lebende Barmherzigkeit.
Die Bundesregierung hat einiges in die Wege geleitet, um die Pflegekrise zu entschärfen. Es wird aber dauern, bis das alles greift. Fürchten Sie, dass es demnächst noch enger wird?
Ich hoffe nicht. Mein Eindruck ist, dass es sich irgendwie auf jetzigem Niveau einpegelt. Das heißt, wir bleiben in einer permanent angespannten Situation. Aus meiner Sicht handelt es sich aber auch um ein zyklisches Problem. In den 70er Jahren hat man den Notstand dadurch gelindert, dass man viele Pflegekräfte aus Korea geholt hat. Anfang der 90er Jahre wurde die Krise kompensiert durch Fachkräfte aus der ehemaligen DDR und Teilen des Ostblocks. Jetzt müssen wir wieder nach neuen Rezepten suchen.
Die Politik hat für die Krankenhauspflege nun das Fallpauschalensystem außer Kraft gesetzt. Jede Klinik bekommt so viele Pflegepersonal bezahlt, wie sie benötigt und auftreiben kann. Hilft das?
Ich bin kein Hellseher. Aus meiner Sicht hätte man hier aber schon viel früher die Reißleine ziehen müssen. Die Fallpauschalen haben zu Leistungsverdichtung und Personalabbau geführt – und damit exakt in die derzeitige Krise. Eine Gesellschaft muss sich ehrlich machen: Wenn sie eine gute Krankenversorgung will, muss sie dafür auch bezahlen.
Das heißt nicht, irgendjemanden groß abkassieren zu lassen. Es heißt, das System so auszugestalten, dass die Pflegeprofession attraktiv ist – trotz notwendiger Schichtdienste. Es heißt auch, Pflegende ernst zu nehmen, sie nicht in der Hierarchie als Hilfskräfte von Ärzten anzusiedeln. Pflegeprofis sind nicht dafür da, zu streicheln und „heile, heile Gänschen“ zu singen. Sie verfügen über hohe Kompetenzen, arbeiten selbstständig, verantwortungsvoll und wissenschaftlich fundiert.
Wie sehen Sie denn den geplanten Bundesratsvorstoß der Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci, Leiharbeit in den Kliniken zu verbieten?
Leiharbeit wäre eine gute Ergänzung – wenn die Nachfrage nicht den Preis so in die Höhe getrieben hätte. Dass Pflegekräfte und Ärzte in Verleihfirmen deutlich weniger arbeiten und trotzdem mehr aufs Konto bekommen als Festangestellte, ist nicht in Ordnung. Aber ob sich das juristisch verbieten lässt? Man muss vielleicht die Spielregeln verschärfen, gegen Auswüchse vorgehen. Besser wäre es allerdings, die Krankenhäuser in die Lage zu versetzen, individueller auf Dienstplanwünsche reagieren zu können. Dann wären Krankenhausbeschäftigte zufriedener und Leasingfirmen überflüssig.