Nachruf auf Valerian Arsène Verny (Geb. 1994): Nichts auslassen, nichts bereuen
Was macht man mit der Freiheit und den großen Talenten? Erfahrungen sammeln, auf Reisen gehen, das Leben auskosten. Das alles tat Valerian, und dann ging er einen Schritt zu weit.
Nichts aufsparen, jetzt ist das Leben! Morgen ist sowieso alles anders, und Vernunft ist was für die Vernünftigen. Sollen die sich über Bausparverträge und Versicherungspolicen beugen, während hinter ihnen die Sonne den Himmel rot anmalt.
Wenn Valerian mit seinen Freunden unterwegs war, kam es vor, dass er anhielt und rief: „Halt, stop! Jetzt wartet doch mal! Seht ihr nicht diesen Himmel?“
Wie er auch lief, dieser komisch tänzelnde Gang, der überhaupt nicht zu dem großen, stämmigen Kerl passte. Die gerade Linie, der kürzeste Weg von A nach B: Was man da alles verpasst im Leben!
Man kann die Spree in Treptow überqueren, indem man über eine Brücke geht, ohne zu ahnen, wie es ist, wenn man fliegt. Valerian ist geflogen, von der Brücke runter in die Spree, mehrmals, bis er sich den Fuß aufgeschnitten hat. Mit der Wunde ist er nach Hause geradelt, von Treptow bis nach Zehlendorf. Nichts auslassen. Nichts bereuen.
Valerian, Sohn einer deutschen Sprechtherapeutin und eines tschechischen Juraprofessors, war vor vier Jahren ans Zehlendorfer Schadow-Gymnasium gekommen und hatte auch hier sehr schnell sehr viele Freunde. Er sei von einem Charme gewesen, erzählt sein Freund Tom, der einem verdächtig vorkam. „Aber dann merkte man: Der ist echt so. Als hätte er die Höflichkeit erfunden.“
Ein Gesegneter, dem die Sympathien zuflogen wie auch die Kenntnisse. Mit Ehrgeiz und Fleiß hätte er locker ein Einser-Abi gemacht. Ohne das wurde es eine Zwei. Auch gut. Warum hätte er die Zeit weniger seinen Freunden und den Romanen widmen sollen und mehr der Schule und dem Lehrstoff? Was hätte er später dann erzählen sollen über die Zeit, die die beste seines Lebens sein sollte (wie jede davor und danach auch)? Da hab ich für Chemie und Bio gelernt?
Selbstverständlich kann man auch sagen, dass er Tage und Wochen vertan hat mit Dingen, die ihn nicht vorwärts brachten. Vorwärts aber kann nur der gehen, der weiß, wo vorn ist.
Valerian hat viel Zeit mit seinem iPhone verbracht – aber nicht um zu spielen. Gegenüber den alten Tastentelefonen hatte es den Vorteil, dass er damit Mitteilungen in Brieflänge schreiben konnte, ohne dass ihm die Finger hinterher abfielen. Mochten die, denen die Sprache nichts galt, sich mit 160 Zeichen pro SMS begnügen.
Viola war seine beste Freundin an der Schule. Am 1. Januar 2012 entschieden sie: Ab jetzt bis zum Abi sind wir ein Paar. Ein halbes Jahr gaben sie sich, jetzt war es schön, wer wusste denn, was dann sein würde. Bloß nicht klammern.
Nach dem Abitur war es immer noch schön, nur dass sie jetzt viel freier waren. Was macht man da? Eine große Reise, ganz weit weg, die Welt stand offen. Das Geld, das die Reisefreiheit kostete, erjobbten sie sich in Cafés, und im Februar 2013 ging es los: drei Monate Südafrika.
Ein luxuriöser Testlauf fürs Leben. Nicht weil das Geld üppig war, im Gegenteil, das Geld war knapp. Luxus war Ferne. Niemand da, der nach Plänen forschte, Studienwünsche abfragte. Was interessierte es die Südafrikaner, was Valerian mal werden wollte. Es ging nur darum, klarzukommen; mit dem bisschen Geld, das da war, so viel wie möglich zu erleben. Und fürs Geld, so hatten sie es ausgemacht, war Valerian zuständig, Viola für die Organisation. Wahrscheinlich wäre es einfacher gewesen, wenn sie auch die Kasse übernommen hätte, aber da dachte sie ganz mütterlich: Das soll der Junge jetzt mal machen. Bis auf die Sache mit den Avocados hat’s gut funktioniert. Valerian fand, so gut wie die schmecken, sollte man zu jedem Frühstück welche haben. Viola fand das nicht, denn Avocados waren auch in Südafrika nicht billig.
Einen Monat verbrachten sie in einer Art Hippie-Hotel. Sie halfen dort aus, dafür waren Essen und Unterkunft umsonst. Und Viola erlebte Valerian von einer ganz neuen Seite: Er stand früh auf, tat lauter praktische Dinge, hackte Holz, kochte. Sogar für das Grünzeug drum herum, das man Natur nennt, konnte er sich begeistern.
Und dann gab es das Gespräch mit diesem alten Typen, der über Außerirdische und Seelenwanderung redete. Ganz so weit mochte Valerian ihm nicht folgen. Aber dass nach dem Tod noch was kommen würde, da war er sich sicher. Deshalb, fand er, muss man davor auch keine Angst haben. Man kann das mit Spannung erwarten.
War er noch zu jung? Genügte es nicht, was er zu erzählen hatte?
Zurück in Deutschland ging es wieder um die irdischeren Dinge. Was soll man nur werden, wohin mit dem Talent? Valerian schrieb Geschichten und manchmal Gedichte. 2009 hatte er einen Schreibwettbewerb gewonnen mit der Geschichte über einen Schutzengel mit Dreitagebart. Das nun war es, was er sich vorstellen konnte: Er würde schreiben. Vor der Reise hatte er sich am Leipziger Literaturinstitut beworben, aber sie hatten ihn abgelehnt. War er noch zu jung? Genügte es nicht, was er zu erzählen hatte, die Lebenserfahrung?
Es stimmte ja, davon gab es noch nicht allzu viel. Freunde und Eltern bescheinigten ihm immer wieder das größte Talent. Seine Zweifel daran konnten sie nicht zerstreuen. Dagegen half ganz gut das Kraut, das er gern rauchte und von dem er wusste, wie wenig es wirklich half. Er formulierte es so: „Wem sollte man schon etwas vorgaukeln? Warum sollte man so tun, als sei es dem Selbst nicht bis ins letzte Detail bewusst, wohin die raucherfüllten Segel des Coucheckendreimasters einen einmal mehr zu treiben gedenken? Weit, weit hinaus auf den grenzenlosen Ozean der Taugenichtserei bis hin zur einsamen Insel des verklärten Dilettantismus, auf der man einmal mehr Stunde um Stunde Seite an Seite mit den anderen Geistesgrößen dieses Metiers mal ekstatisch lachend, mal erbittert diskutierend, doch zumeist schlichtweg gedankenverloren schweigend verbringen würde.“
Valerians engste Freunde entschieden sich für Wege, die vorgezeichnet waren, Medizin, Ingenieurswesen. Viola ging nach Leipzig, um Jura zu studieren (sie dachten, das wäre nun die Gelegenheit, die Zeit als Paar zu beenden, aber sie besuchten sich in Berlin und Leipzig und merkten erstaunt, dass es immer noch passte, kein Klammern, kein Überdruss). Valerian schrieb sich pflichtschuldig für Germanistik und Philosophie ein. Aber wozu die Seminare? Er wollte die Welt sehen, Erfahrungen machen, über die es zu schreiben lohnt. Eine weitere Reise wollte er unternehmen, größer und länger, so viel schreiben wie möglich und dann einen zweiten, letzten Versuch am Literaturinstitut. Das war der Plan.
Geld verdiente er zuerst in einer Kreuzberger Schwulenbar. Da bekam der schmucke junge Mann viel Trinkgeld. Weil er aber mit seinem liebsten Kollegen, der ebenfalls hetero war, nicht in einer Schicht arbeiten sollte – das sei schlecht fürs saubere Image –, kündigte er. Und fing an, für eine Berliner Literaturinitiative zu arbeiten. Er gab Lese- und Schreibkurse für Kinder und Jugendliche. Schwer vorstellbar, dass irgendein Deutschlehrer mehr ausrichten kann, als Valerian es konnte: Begeisterung ist ansteckend, erst recht, wenn der zuerst Befallene so jung ist, so gut aussieht und sowieso die Sympathien auf seiner Seite hat.
Am 5. März, es war ein Mittwoch, feierte er den Geburtstag eines Freundes in Kreuzberg. Es wurde viel getrunken. Gegen Mitternacht machte Valerian sich mit vier Freunden auf den Weg nach Zehlendorf. Am Bahnhof Yorckstraße kamen sie auf die Idee, auf der S-Bahn zu fahren statt in ihr. Nichts auslassen. Nichts bereuen.
Zwischen den Bahnhöfen Julius-Leber-Brücke und Schöneberg gibt es einen niedrigen Tunnel, 30 Zentimeter zwischen S-Bahn-Dach und Tunneldecke. Als die Bahn durch war, lag von Valerian nur noch ein Schuh auf der S-Bahn. Die vier anderen haben den Wahnsinn überlebt.
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Valerians Eltern versuchen der Sinnlosigkeit dieses Endes mit Sinn zu begegnen. Sie haben die „Valerian Arsène Verny Stiftung für literaturbegabte Kinder und Jugendliche“ gegründet. Es sollen Talente, wie Valerian eins war, gefördert werden. Bei einer Gedenkveranstaltung für Valerian vor einer Woche wurde die Stiftung vorgestellt. Es wurden Texte von ihm vorgelesen und Bilder gezeigt, darunter Fotos aus Südafrika. Auf einem springt Valerian am Bungeeseil in die Tiefe. Dann erschienen Bilder, die Kinder aus seinen Literaturkursen gemalt haben. Da war eins mit einer S-Bahn und einem Mensch obendrauf. Darüber, in unbeholfener Schrift: „Lieber Valerian! Du warst ein toller Lehrer. Wieso hast du das getan?“
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