Protest gegen Zeitumstellung: Nicht mit mir!
Erst ab Sonntag ticken die Uhren in Renate Stahns Laden wieder so wie im restlichen Berlin. Dann endet die Sommerzeit – und damit der ganz persönliche Boykott der Zoohändlerin.
Der Termin in der Zoohandlung am Helmholtzplatz ist für 11.15 Uhr anberaumt. Deutscher Zeit. Nach Renate-Stahn-Zeit heißt das: 10.15 Uhr. Die resolute Prenzlbergerin boykottiert die Sommerzeit. Und wenn die ganze Bundesrepublik ihre Uhren in der Nacht auf Sonntag um eine Stunde zurückdreht, ändert sich für Stahn gar nichts. Sie hat das ganze Jahr schon Winterzeit, seit dem Frühling, seit sich ihre Gebrechen mehrten und die Kanarienvögel bei Tag auf der Stange schliefen, den Kopf unterm Flügel. „Ich bin nicht mehr die Jüngste. Ich habe gemerkt, wie mir die Sommerzeit zusetzt“, erzählt Stahn. Schlafstörungen, Schwindel, diese Hatz, rechtzeitig im Laden zu sein, angekommen, Herz- und Kreislaufprobleme. „Ich war fix und fertig.“ Mit jedem Zipperlein wuchs der Widerstand, bis es der Geplagten reichte. Sie drehte die Zeit zurück, im wahrsten Sinne. Winter- statt Sommernorm. Sie sagt: „Normale Zeit. Mitteleuropäische Zeit. Meine Zeit.“
Nur einer Frau wie Renate Stahn glaubt man, dass dieser Protest keine Publicity ist, nicht auf Effekt berechnet. Aber sie hat einen starken Willen. Sie denkt, was sie fühlt, und sie sagt, was sie denkt, freie Schnauze, ein halbes Jahrhundert Kiez, na immer raus damit. Eigentlich hätte Stahn schon in Rente wechseln können, aber sie macht weiter, der Laden und die Sommerzeit, um diese beiden Belange geht es noch. Erst am 31. Januar 2014 ist Schluss, ein Nachmieter wird gesucht. Bis dahin wird Stahn noch schimpfen, das kann sie nämlich ziemlich gut. Variable Themen, gleiche Empörung. Caféflut im Viertel, Tierfutter, Pferdefleisch, EU-Richtlinien. Und Angela Merkel. „Ich wünsche mir, dass die Kanzlerin den Mumm hat und die Sommerzeit kassiert.“ Aber – „nee, wird ja gar nicht thematisiert.“ Und der Russe? „Ist da immerhin etwas klüger.“
11 bis 18 Uhr statt 12 bis 19 Uhr
Dann bedient Stahn einen Kunden, der Katzenhalsbänder sucht; längst hat sich die Zoologie auf Zubehör spezialisiert. Tiere zu verkaufen, lohne nicht mehr. Im Nebenzimmer zwitschern, flattern, fiepen noch ein paar Kanarienvögel in ihrer Voliere, 25 Euro ein Weibchen, der Hahn für 35, und, ein Käfig tiefer, der letzte Wellensittich, das blaue Kleid geplustert.
Auch weil ihren Vögeln die Sommerzeit auf den Biorhythmus schlug, verweigerte sich Stahn der Umstellung. Die Tiere wurden früher aktiv und früher müde. Am Nachmittag, wenn die meisten Kunden, Mütter mit Kind, Flanierer, die Spätaufgestandenen, kamen, dösten die Girlitze auf ihrer Stange, träge und apathisch. Die Kunden glaubten sie krank, sie kauften nicht mehr und rieten Stahn, sie solle einen Tierarzt holen. Stahn sagte den Kunden, sie brauche keinen Arzt, sondern die Winterzeit zurück. Sie zog die Öffnungszeiten vor, 11 bis 18 statt 12 bis 19 Uhr, und annoncierte ihren Protest via Flugblatt an der Fassade. Einige wurden abgerissen. „Aber die meisten Kunden haben zugestimmt und sich gewundert, warum das nicht mehr Geschäfte machen.“ Stahn wundert sich ständig, sommers wie winters, Zweifel argumentiert sie weg. Sie steht zu ihrem Protest für die gute, alte MEZ, zu ihrem täglichen Nicht-mit-mir. Es erinnert an Momo gegen die grauen, zeitstehlenden Herren. Spahn, der wackere Trotzkopf.
Sie hat sich schon oft ans Ziel gekämpft. Fing als Putzfrau an, wurde 1976, aus Liebe zum Tier, Zoofachfrau, später arbeitslos. Machte Urlaubsvertretungen, ehe ihr der Inhaber in der Dunckerstraße sein Geschäft anbot. Seit 2002 führt sie es, ein Existenzgründerseminar als Basis. Den Kampf gegen die Sommerzeit wird Stahn nur im Privaten gewinnen, nicht auf ganzer Breite. Zwar ist die Theorie von der Energieeinsparung widerlegt, und Experten sehen die Stundenarithmetik kritisch. Aber der ganz große Volkszorn bleibt aus. Stahn lächelt, der Gesundheit geht es besser, sie streichelt über ein verblichenes Pad mit Hundeschnauze. „Meine Hoffnung stirbt zuletzt.“ Die Nacht auf Sonntag verbringt sie mit Freunden im Garten, vielleicht eine Flasche Sekt. Das Wetter wird gut – und die Zeit endlich auch wieder.
Moritz Herrmann