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Dilemma um Rütli-Schule: Neukölln ist auch hier

Diese Neuköllner sind so, wie sie sich Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky eigentlich wünscht: engagiert, anständig, hilfsbereit. Doch die Rütli-Gärtner müssen weichen - für ein Prestigeprojekt Buschkowskys, dessen Zustandekommen noch nicht einmal sicher ist. Ein Neuköllner Dilemma.

Die gute Nachricht vorweg: Der Neuköllner Haushalt kann im kommenden Jahr um 45 Cent entlastet werden. Denn auf die obligatorische Glückwunschkarte zu ihrem 90. Geburtstag aus den Händen von Bezirksbürgermeister Buschkowsky verzichtet Ilse Trebbin schon jetzt, "und zwar in aller Form mit der gebotenen Höflichkeit". Sie sitzt in ihrem Schrebergarten gegenüber der ehemaligen Rütli-Schule unter einem Sonnensegel, eine Frau im Sonntagskleid, krause Haare, wache Augen. Neben ihr am Tisch zwei weitere Senioren auf gepolsterten Gartenstühlen. Ilse Trebbin gibt einen aus, Kaffeeklatsch mit Himbeerkuchen, Schlagsahne und - wer mag - Doppelkorn. Ein sonniger Nachmittag zum Dahindösen und Vertrödeln, aber die Lage ist ernst, und Trebbins Gäste sind empört.

"Wir mussten uns alles selbst erarbeiten, und dann jagen sie einen vom Hof", poltert eine der Damen, der "noch nie im ganzen Leben" etwas geschenkt worden sei, und Trebbin sagt, mäßigend, mit der rechten Hand den Furor ihrer Freundin abschwächend: "Ach ja, nun komm, so isses auch nicht." Ilse Trebbin hält nichts von schrillen Tönen. Wenn sie geht, dann in Würde - das ist der Plan.

Ihr Problem ist die ehemalige Rütli-Hauptschule am hinteren Ende der Schrebergartenkolonie. Mit dem Hilfeschrei der überforderten Lehrer vor sechs Jahren sicherte sich die Rütli-Schule einen Spitzenplatz auf der Liste der schlechtesten Schulen Deutschlands. Doch die Lage hat sich geändert. Aus der ehemaligen Terrorschule wurde auf Initiative von Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) die "1. Gemeinschaftsschule Neukölln", ein Zusammenschluss von Rütli-Schule, Heinrich-Heine-Realschule, Franz- Schubert-Grundschule und zweier Kindergärten.

Für 25,5 Millionen Euro soll hier auf fast 50.000 Quadratmetern in den nächsten Jahren der "Campus Rütli" entstehen, ein Bildungsleuchtturm für Nordneukölln mit Multifunktionshalle, Sportplätzen, Ausbildungswerkstätten und einem Jugendklub. Mittlerweile zählt die Schule zu den beliebteren Adressen im Viertel, die Warteliste für einen Platz ist lang.

Das Interesse an einem freien Platz in der Schrebergartenkolonie "Hand in Hand" hingegen ist vorbei. Alle 33 Parzellen werden im Herbst dichtgemacht. Lange haben die Pächter dagegen gekämpft, nun ist der Widerstand fast erloschen. Was bleibt, sind abgestorbene Zweige an Himbeersträuchern. Und frustrierte Schrebergärtner, die genau so sind, wie Bürgermeister Buschkowsky sich die Neuköllner sonst immer gerne wünscht: engagiert, anständig, hilfsbereit in der Nachbarschaft.

Kleine Leute gegen kleine Leute

Die schlechte Nachricht: Ilse Trebbin läuft Gefahr, ihre Prinzipien zu verraten. Während um sie herum viele Parzellen längst aufgegeben wurden, hält sie die Stellung. "Das steckt in mir drin, ich erfülle meine Aufgaben bis zum Schluss. So gehört sich das doch", sagt sie, die Christin, jeden Abend das Vaterunser, gebeugter Rücken, vielleicht noch einen Meter fünfzig groß. Natürlich, noch immer wässert sie den Rasen, zupft Unkraut, fegt die Terrasse. Aber ihr Eifer lässt nach.

Einige Wochen hätte sie Zeit, ihren Garten noch mehr auf Vordermann zu bringen, bevor die Planierraupen kommen. Sie wird es nicht tun. Mit 88 Jahren ist zum ersten Mal in ihrem Leben auf Ilse Trebbin kein Verlass. Wenn sie im Herbst das Gartentor zu ihrer Parzelle zum letzten Mal abschließt, wird der Laie einen perfekt gepflegten Garten sehen. Aber Ilse Trebbin sieht nur den vertrockneten Zweig am Himbeerstrauch, den abzuschneiden sie sich weigern will. So sieht er aus, der Widerstand einer alten Frau.

"Wir haben uns nie etwas zuschulden kommen lassen", sagt sie. Es sieht so aus, als hätte sie einfach nur Pech. Sie muss gehen, weil ihr Garten einer Schule im Weg steht. Keinem Golfplatz, keinem schwäbischen Bauherrenträumchen und keiner billigen Touristenherberge. Einfach nur einer Schule, in der Kinder eine Chance bekommen sollen, die ansonsten kaum eine hätten - das ist der Plan. Was bleibt, ist ein Dilemma: Umwelt gegen Bildung. Kleine Leute gegen kleine Leute. Der letzte Sommer im Grünen ist vorbei - beendet durch eine neue Schule?

Die geplanten Neubauten im Überblick, dabei Grün markiert: die Kleingartenkolonie "Hand in Hand" und Rot markiert: das Rütli-Erweiterungsgebiet. Die Parzellen von Ilse Trebbin und den anderen sind mehreren Neubauten im Weg. Die neue Quartierssporthalle (1) ist bereits in Bau. Weiterhin geplant sind Gebäude für Arbeitslehre (2) und berufsorientierende Angebote (3). Zudem soll das Hauptgebäude der Rütli-Schule erweitert werden (4). Auch ein neues Elternzentrum (5) mit pädagogischer Werkstatt und beratenden Diensten ist geplant. Wann hier die Bauarbeiten beginnen, ist ebenso offen wie die Frage, wer die Sportplätze baut, die noch gar nicht ausgeschrieben sind.
Die geplanten Neubauten im Überblick, dabei Grün markiert: die Kleingartenkolonie "Hand in Hand" und Rot markiert: das Rütli-Erweiterungsgebiet. Die Parzellen von Ilse Trebbin und den anderen sind mehreren Neubauten im Weg. Die neue Quartierssporthalle (1) ist bereits in Bau. Weiterhin geplant sind Gebäude für Arbeitslehre (2) und berufsorientierende Angebote (3). Zudem soll das Hauptgebäude der Rütli-Schule erweitert werden (4). Auch ein neues Elternzentrum (5) mit pädagogischer Werkstatt und beratenden Diensten ist geplant. Wann hier die Bauarbeiten beginnen, ist ebenso offen wie die Frage, wer die Sportplätze baut, die noch gar nicht ausgeschrieben sind.
© Quelle/Abbildung: Schulz & Schulz Architekten Leipzig

Im Garten von Frank Radix lässt sich beobachten, wie es aussieht, wenn Schrebergärtner politisch werden. Der 49-jährige Möbeltischler ist Sprecher der Gartenkolonie und lebt seit Jahrzehnten in Neukölln. Von Gartenzwergen in seiner Parzelle keine Spur, dafür wächst aus einem zerrupften Rollkoffer neben der Hecke eine Kartoffelpflanze in die Höhe - ein floristisches Manifest wider Gentrifizierung, Billigtourismus und Mietervertreibung.

Von einer roten Fahne über Radix’ Hütte starrt ein Mann, der in etwa so aussieht wie der gut rasierte Bruder von Friedrich Engels, missmutig in Richtung Schule. "Das ist Doktor Schreber, ein fieser Typ, der dummerweise Namensgeber der Schrebergärten ist. Was soll man machen", sagt Radix. In der Tat, Schreber war ein ziemlicher Miesepriem, der als Arzt in Leipzig zur Mitte des 19. Jahrhunderts viel Zeit darauf verwandte Masturbationsverhinderungsmaschinen zu entwickeln und gegen heiße Leidenschaft am liebsten kalte Güsse verschrieb. "Heute würde man sagen: schwarze Pädagogik", sagt Radix, verschränkt die Hände hinterm Kopf, legt die Beine übereinander und lacht, dass die goldenen Backenzähne in der Sonne leuchten.

2500 Unterschriften haben Radix und die anderen Pächter in der Nachbarschaft für den Erhalt ihrer Kolonie gesammelt, beim Festival "48 Stunden Neukölln" ihre Gärten für Lesungen und Installationen geöffnet, gegen die Räumung geklagt. Vergeblich. Da das Gelände dem Land Berlin gehört und schon in den siebziger Jahren als "Schulerweiterungsgelände" deklariert wurde, sitzen die Pächter am kürzeren Hebel. "Wir hatten eigentlich nie eine Chance, in der Politik auf Gehör zu stoßen", sagt Radix, der in der großen Unterstützung für den Campus Rütli vor allem Ratlosigkeit sieht.

"Ich glaube, dass Buschkowsky sich hier ein Denkmal setzt"

"Neue Gebäude kann man einweihen und dann sagen, man tut etwas. Das ist viel stärker sichtbar als mehr Personal oder bessere Schulkonzepte. Die Schmach Rütli muss mit aller Macht aus dem Gedächtnis getilgt werden - das scheint der Anspruch zu sein. Ich glaube, dass Buschkowsky sich hier ein Denkmal setzen will", sagt Radix.

Wo heute noch seine Parzelle ist, soll in einigen Jahren ein Neubau für Arbeitslehre stehen. Bei Radix zwitschern die Vögel, aber hinter der Hecke dröhnt die Baustelle der neuen Quartierssporthalle, donnert ein Laster die Pflügerstraße hinunter und ausgerechnet jetzt, als Radix vom "stillen Rückzugsraum im Grünen für junge Familien mit ihren Kindern" sprechen möchte, wirft Frau Nachbarin ihren Rasenmäher an.

Käme jetzt noch ein Rudel Bierbikes, ein wenig Bumsmusik aus tiefergelegten Autos und ein Flugzeug im Landeanflug - die Schlacht wäre geschlagen. Aber auch so ist die Lage hoffnungslos, zumal sich viele Pächter von der Drohung, bei einer späten Räumung nicht entschädigt zu werden, haben entmutigen lassen und das Gelände verließen.

Was Radix bleibt, sind kritische Prognosen. "Ich glaube nicht, dass hier alles so gebaut wird, wie es jetzt geplant ist. Wahrscheinlich macht man unsere Gärten platt und stellt dann fest, dass im Haushalt kein Geld übrig ist für den Bildungs-Campus. Das wäre das Schlimmste, was den alteingesessenen Pächtern passieren könnte: Man planiert ihre Gärten und lässt sie dann auf unbestimmte Zeit die Brache bewundern." Radix wohnt in der Ossastraße, im letzten Haus vor dem Eingang zur Kolonie. Und er könnte recht behalten mit seiner Befürchtung.

Denn schon jetzt hängen die Arbeiten am Campus Rütli dem Zeitplan hinterher. Eigentlich sollte im April 2013 der Spatenstich für Schulerweiterung, Elternzentrum und den Neubau für Arbeitslehre erfolgen. 25,5 Millionen Euro stellten das Bezirksamt Neukölln und der Berliner Senat dafür im Juni 2011 zur Verfügung. Zwei Monate später, im September 2011, stand fest, dass ein Leipziger Architektenbüro die Ausschreibung für den Campus-Bau gewonnen hat. Doch erst in dieser Woche fand eine erste Baubesprechung mit den Architekten statt - ein Jahr später. Grund ist die Haushaltssperre, wegen der im Dezember alle Baumaßnahmen auf Eis gelegt wurden. Wann mit dem Bau tatsächlich begonnen wird, ist unklar.

"Voraussichtlich 2014", sagt Wolfgang Nitsche, beim Bezirksamt Neukölln zuständig für das Bauprojekt. Genauer weiß es derzeit niemand. Und die offenen Fragen mehren sich: Wer soll die Sportplätze bauen, die zwar geplant, aber nicht ausgeschrieben sind? Wann verkauft der Besitzer einer Autowerkstatt an der Pflügerstraße sein Grundstück - so wie es der Bauplan verlangt? Und wann ist der Campus fertig? Das Bezirksamt als Bauherr weiß es nicht.

Auch der Bau einer "Berufswerkstatt", in der der Übergang von Schule in den ersten Arbeitsmarkt geebnet werden soll, ist unsicher. In den Bauplänen ist die Werkstatt zwar enthalten, nur bezahlen kann das Bezirksamt nichts. Es fehlen 2,5 Millionen Euro - jetzt sollen Sponsoren helfen. Bezirksbürgermeister Buschkowsky und Bildungsstadträtin Franziska Giffey haben vor einigen Wochen eine Broschüre herausgegeben, mit der sie bei Wirtschaft, Stiftungen und Verbänden um Geldspritzen bitten.

Jede Menge Unklarheiten rund um den Campus also, Bauarbeiten im Zeitplan sind schon vor dem ersten Spatenstich nicht mehr möglich. "Der Termin zur Fertigstellung des Campus in 2016 ist nicht zu halten", sagt Wolfgang Nitsche. Am Abriss der Schrebergärten ändert das jedoch nichts. Nach diesem Sommer ist Schluss in der Kolonie.

Dieses Projekt - es ist ein Feldversuch mit offenem Ausgang

Gut 100 Meter davon entfernt tobt in der ehemaligen Rütli-Schule das pure Leben. Ein Dienstagmorgen, große Pause, Direktorin Cordula Heckmann auf Patrouille: Eine kleine Frau mit Brille in den Haaren bahnt sich ihren Weg durch Schülermassen und kommt vor der Hausmeisterloge im Erdgeschoss zum Stehen. In einer Ecke sitzt ein Mädchen mit dem Rücken zu Heckmann, wähnt sich unbeobachtet, hebt die Arme in die Höhe und donnert mit beiden Fäusten wuchtig auf einen Tisch. Ihre Sitznachbarin tippt sie an, das Mädchen dreht sich um, dann Blickkontakt: Heckmann, schweigend, die Stirn in Falten, ein milde-tadelndes Lächeln. "Oh, Frau Heckmann", sagt die Schülerin. "Ganz genau, Frau Heckmann", sagt Frau Heckmann, nickt freundlich, und dann ist wieder Ruhe.

Mehr als 350.000 Euro erhielt die Schule in den letzten sechs Jahren von Stiftungen und Sponsoren. Für eine halbe Million Euro wurde vor drei Jahren die ehemalige Turnhalle zur Mensa umgebaut, Vattenfall spendierte die Kletterwand im hinteren Teil. Den neidischen Blick, mit dem die Veränderungen an der alten Rütli-Schule mitunter registriert werden, kann Heckmann nicht verstehen. "Die Kritik, dass wir angeblich so privilegiert seien, tut weh. Am Betreuungsschlüssel hat sich bei uns nämlich überhaupt nichts geändert", sagt sie. "Wir haben genauso viele oder wenig Lehrer wie andere Berliner Schulen auch." Die bisweilen "in Vorleistung gehen, weil sie für dieses Projekt brennen".

Dieses Projekt - es ist ein Feldversuch mit offenem Ausgang. "Der Plan ist es, junge Menschen in ihrer Ausbildung von Anfang bis Ende zu begleiten und die Übergänge störungsfreier zu gestalten. Im Idealfall geht es darum, von der Kita bis zum Schulabschluss eine kontinuierliche Betreuung anzubieten", sagt Heckmann. Dafür braucht der Campus Platz, fast 50 000 Quadratmeter für geschätzt irgendwann einmal 1000 bis 1400 junge Menschen. Wer dem Ausbau im Weg steht, hat ein Problem. "Man muss sich auch entscheiden: Wollen wir eine Bildungsrepublik sein oder nicht", sagt Heckmann.

Sie will das - und immer mehr deutsche Eltern wollen auch. Seit diesem Schuljahr schlägt sich der Strukturwandel des Viertels erstmalig auch in der Schülerschaft nieder: Von den 66 Schulanfängern haben noch gut sechzig Prozent einen Migrationshintergrund, sonst waren es immer mehr als neunzig Prozent. Und auch das Einkommen der Eltern scheint zu steigen. Bei fast vierzig Prozent der Schulanfänger können die Eltern Schulbücher, Hefte und andere Lehrmittel selbst bezahlen; in der Vergangenheit waren rund 90 Prozent Kinder in Nordneukölln auf staatliche Hilfen angewiesen. Der Campus Rütli ist ein Bildungsleuchtturm, der schon vor seiner Fertigstellung zu strahlen beginnt.

Wer aber wird vom Campus profitieren, wenn er irgendwann einmal fertiggestellt ist? Und was wird aus den Kindern, die schon jetzt keinen Platz mehr bekommen an der Gemeinschaftsschule? "Sie werden anderen Schulen zugeteilt", sagt Bildungsstadträtin Giffey. Wie das aussieht, lässt sich beispielsweise an der Neuköllner Keplerschule kurz hinterm S-Bahn-Ring feststellen. 92 freie Plätze gab es dieses Schuljahr, aber nur 20 Anmeldungen. Also platzierte das Schulamt insgesamt 39 Kinder an der Keplerschule, die an anderen Schulen keinen Platz bekamen. "Natürlich verfestigt sich da ein Problem. Wir haben über Jahre hin Kinder auf Schulen schicken müssen, die da nicht hinwollen", sagt Giffey. Wird also die Keplerschule irgendwann die neue Rütli-Schule, späterer Brandbrief nicht ausgeschlossen?

Einige Tage vorher, Freitagabend in der Kolonie, Festplatz. Auf den Holztischen mehrere Flaschen "Mönchshof Original Pils", Zigaretten und Geschenke. Helmut Tausendteufel, kurze Hose, aufgeknöpftes Hemd und schwarze Sandalen, feiert seinen 52. Geburtstag. In einer Holzhütte am Festplatz wartet eine Batterie Nudelsalat, bisher jedoch interessieren sich die Gäste vor allem für Autan Sensitive. "Unglaublich viele Mücken hier", wundert sich einer, "hier gibt’s halt viele Pfützen", sagt ein anderer. Seit 20 Jahren lebt Tausendteufel in Neukölln, vor fünf Jahren kam er als Pächter in die Kolonie. "Der Abschied macht einen schon etwas traurig", sagt Tausendteufel. "Für die älteren Pächter geht eine Ära zu Ende. Die werden keine neuen Gärten mehr bekommen, schon gar nicht in ihrem Viertel." Nach und nach trudeln die Gäste ein, Tausendteufels letzter Geburtstag als Rütli-Gärtner kommt allmählich in Schwung.

"Am Anfang haben die meisten gedacht, dass es eine tolle Sache ist, wenn hier in die Infrastruktur investiert wird. Wir wollten uns einbringen bei der Neugestaltung auf dem Gelände, zumal die Bürgerbeteiligung angeblich ein wichtiger Bestandteil beim Campus-Konzept ist", sagt Tausendteufel. Er hat einen Doktortitel in Soziologie, arbeitet als Dozent im Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, schult Polizisten. Man kann annehmen, dass sich einer wie Tausendteufel einigermaßen auskennt mit Pädagogik, schwierigen Kindern, Verrohung. "Man hätte sich Gedanken machen können über einen gemeinsamen Garten von Schrebergärtnern und Schülern, der offen ist für die Kinder im Viertel und im Campus. Aber für unsere Vorschläge hat sich niemand wirklich interessiert", sagt Tausendteufel. "Der neue Campus wird wie ein Fremdkörper im Viertel wirken. Das war hier immer eine bunte Mischung in der Kolonie. Junge und Alte, vom Akademiker bis zum Arbeiter. Streng genommen könnte man sagen, Buschkowsky vertreibt hier gerade seine eigene Wählerschicht."

"Mensch, Helmut, nun mach doch mal ’n bisschen Party", durchbricht ein Gratulant die trübe Stimmung, schulterklopfend, in der Hand ein Geschenk: Charles Bukowski, eine Lesung in Hamburg von 1977. "Klasse, Bukowski. Da war ich ein großer Fan von. Die schauen wir uns aber gemeinsam an", sagt Tausendteufel und legt die DVD auf den Gartentisch, direkt neben einen Bildband. Der Titel: "Neukölln, alte Bilder erzählen".

Wo Welten aufeinanderprallen, Verständigung ausgeschlossen

Dass die Bürgerbeteiligung beim Campus nicht erwünscht wäre, den Vorwurf lässt Ilse Wolter nicht gelten. Einige Straßen von der Kolonie entfernt koordiniert die studierte Geografin beim Quartiersmanagement Reuterkiez in der Hobrechtstraße den Campus-Bau und lädt einmal monatlich zur Sprechstunde in Sachen Rütli. Und was ist mit der Idee vom Schulgarten, gemeinsam genutzt von Schrebergärtnern und Schülern? Wolter verdreht die Augen. "Bei den Bodenproben ist uns schlecht geworden. Das Gelände ist hochgiftig, war früher ein Industriegebiet." Dass die Gärten nicht erhalten werden können, stand für Ilse Wolter schon früh fest: "Da hätte man den ganzen Boden austauschen müssen. Und den Aushub gesondert zu entsorgen, hätte Unsummen gekostet."

Hier prallen Welten aufeinander, Verständigung ausgeschlossen. Wolter berichtet von Bodenuntersuchungen, die zu dem Ergebnis kamen, dass Kleinkinder besser nicht mit der Erde in den Schrebergärten in Kontakt kommen sollten. Der Grund: überhöhte Gehalte an Blei, Chrom und Quecksilber. Auf der anderen Seite stehen putzmuntere Schrebergärtner, die seit Jahrzehnten in der Kolonie gärtnern, ihre Kinder dort aufgezogen haben und schon immer aßen, was der Garten so hergab.

Zurück an der Rütlistraße, Ecke Weserstraße, Weichselstraße. Rund 50 Meter vom Campuseingang herrscht dicke Luft. Aus dem ehemaligen "Berliner-Kindl-Eck" quillt eine Staubwolke und legt sich langsam über die Straße. Ein Bauarbeiter fräst bei geöffneten Fenstern Mörtel von den Wänden, aus der ehemaligen Eckkneipe soll eine Bäckerei werden, sagen die Anwohner. "Neukölln scheißt zurück" steht an den Wänden und "saubere Wände = hohe Mieten". Der Mann im Spätkauf guckt interessiert auf die zwei Französinnen, die jetzt die Weserstraße hinunterlaufen. Ihnen folgt ein begeistert pfeifender Dreiertrupp Jungs, allesamt Schüler der Gemeinschaftsschule.

"Die Schule ist viel besser als früher geworden", sagt der 14-jährige Anführer, Flaum auf der Oberlippe. "Die wollen jetzt halt alles umbauen und reden gerne darüber, das ist doch okay", ergänzt sein Kumpel, Blick in Richtung Französinnen. Ob sie denn keinen Unterricht hätten? "Och, wir haben große Pause und machen einen kleinen Spaziergang. Wir müssten dann auch los", grinst der Anführer, seine Kumpels strahlen. Drei Jungs beim Schuleschwänzen und Flirten, jetzt in Eile, vorbei an den neuen Kneipen, Galerien und Künstlerateliers, die in den letzten Jahren rund um die Weserstraße eröffnet haben.

Von diesen Veränderungen bekommt Ilse Trebbin kaum etwas mit. Seit sie Ende der Neunziger einmal überfallen wurde, zwei Männer ihr die Handtasche entrissen, geht sie die täglichen 200 Meter von ihrem Haus zum Garten nicht mehr im Dunkeln, lässt sich auf dem Weg zur Bank von ihrem Sohn begleiten, hat Angst. Sie lebt ein zurückgezogenes Leben, aufstehen um sieben, ab mittags in der Parzelle, abends zu Hause. Seit 30 Jahren.

Erntezeit. Wenn Frau Wolter vom Quartiersmanagement die 88-Jährige jetzt sehen könnte, bewaffnet mit Spaten über ihren Kartoffelacker gebeugt, sie würde wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Giftiger Boden, Quecksilber in den Kartoffeln, Gesundheitsschäden? "Ach was", sagt Trebbin. "Hier hatte ich eine Aufgabe, das hat mir immer Kraft gegeben." Vor zwei Jahren stürzte sie und brach sich das Handgelenk, ein komplizierter Bruch. Und stand kurz darauf wieder in ihrem Garten und zerrte an den Kartoffeln, allen Warnungen zum Trotz. Mit Ilse Trebbin war immer zu rechnen. "Ich lass niemanden im Stich." Nicht einmal Kartoffeln und auch nicht die Vögel, die sie im Winter mit mehreren Vogelhäusern und Unmengen an Meisenknödeln versorgte. Ihr Sohn feierte hier Polterhochzeit, ihr Mann hatte seinen Lieblingsplatz im Schatten neben der Laube. "Der Garten war doch mein Leben", sagt sie.

Letztes Jahr ist ihr Mann gestorben. Helmut Trebbin wurde 90 Jahre alt und liegt auf dem Jacobifriedhof am Hermannplatz. Ein Urnengrab, grauer Grabstein, verziert mit einer Rose aus Metall. Ilse Trebbin hat den Platz neben ihm reserviert. Wenn der Wind durch die Bäume rauscht, sind die Autos auf der Hermannstraße für einen Moment kaum zu hören. "Wenn der liebe Gott mich will, muss ich gehen", sagt sie. "Aber er will noch nicht. Und ich auch nicht." Elf kleine Buchsbäume hat sie auf dem Grab ihres Mannes gepflanzt. Sie stammen aus ihrem Garten.

Tiemo Rink

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