Verein Berliner Unterwelten: Neues Großprojekt: Geheimsache Fluchttunnel 71
An der Brunnenstraße/Ecke Bernauer in Mitte wird ein alter DDR-Fluchttunnel bis zum Sommer nächsten Jahres wieder erlebbar gemacht.
Der Zeitpunkt ist gut gewählt. Treffpunkt: Donnerstag, kurz vor dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober, im Haus an der Brunnenstraße 141/143 in Mitte. Der Verein Berliner Unterwelten führt seine Besucher sieben Meter tief hinab in die riesigen Keller der einstigen „Oswald Berliner Weizenbier Brauerei“. Tonnengewölbe, diffuses Licht, ein kühler Hauch. Doch es geht bei diesem Pressetermin nicht zuvorderst um die Historie der Braukunst, sondern um eines der dramatischsten Kapitel während der einstigen Teilung der Stadt.
Die Fluchtwege erinnern an Glück, Leid und Verrat
Denn ganz in der Nähe, hinter den dicken Klinkermauern dieser Gewölbe, führt ein noch teils erhaltener Fluchttunnel aus dem Jahre 1971 vorbei, dessen Geschichte an großes Glück, grenzenloses Leid und Verrat erinnert. Bis zum Sommer 2018 wollen die Unterwelt-Aktivisten diesen originalen Tunnel wieder für Besucher sicht- und erlebbar machen.
Wie? „Das wird ein größeres Projekt“, sagt der Vorsitzende des Vereins, Dietmar Arnold. „Wir graben den alten Gang sozusagen an, indem wir vom Brauereikeller aus einen 30 Meter langen und 2,05 Meter hohen neuen Tunnel bohren, der ihn kreuzt. Von dieser Stelle aus kann man dann den alten Schacht zwar nicht betreten, aber hineinblicken." Etwa ein halbes Jahr werde man dafür ackern. Betonfertigteile sollen den unterirdischen Weg sichern. Kosten: rund 200 000 Euro.
Zahlreiche Exkursionen führen in den "Bauch von Berlin"
Erfahrung mit Maulwurfsarbeiten hat der 1997 gegründete Verein genug. Seine Mitglieder sind Experten für so gut wie alles, was unter den Füßen der Berliner liegt: Geister-Bahnhöfe, Bunker, Gewölbekeller, Labyrinthe. Viele Exkursionen bieten sie in den „Bauch von Berlin“ an. Eine dieser Touren führt zur Ecke Brunnen-/Bernauer Straße, erzählt werden die Geschichten der Fluchttunnel, denn hier, zwischen Gesundbrunnen und Mitte, nahe der Gedenkstätte Berliner Mauer, durchschnitten die Grenzschutzanlagen den Kiez besonders brutal. Häuser in Sichtweite, dazwischen die Mauer. Deshalb wurden hier die meisten Fluchttunnel gebaut.
Hasso Herschel floh 1961 nach West-Berlin
Von 1961 bis 1984 gab es an der Berliner Sektorengrenze insgesamt 70 Fluchttunnelvorhaben, von denen allerdings nur 19 erfolgreich waren. Rund 300 DDR-Bürger gelangten so nach West-Berlin. Bislang zeigt der Unterwelten-Verein in den Gewölben der früheren „Oswald-Brauerei“ bereits in einer Ausstellung, welche Anstrengungen die Fluchthelfer auf sich nahmen, um Menschen den Weg in die Freiheit zu ebnen. Nun wollen sich die Mitglieder von dort aus zum letzten 1970/71 von Hasso Herschel angelegten Tunnel vorarbeiten. Am Montag soll’s losgehen.
Wer war Hasso Herschel? Er gehört zu den populärsten Fluchttunnelbauern, spätestens seit 2001 der Sat1-Zweiteiler „Der Tunnel“ lief. Herschel geriet schon als Jugendlicher in Dresden mit dem SED-Regime in Konflikt. Er saß mehrfach in Untersuchungshaft und vier Jahre im Zuchthaus, floh 1961 als 26-Jähriger mit einem gefälschten Pass nach West-Berlin und grub schon ein Jahr später mit 48 Helfern einen 120 Meter langen Tunnel zu einem Keller an der Schönholzer Straße. Seine Schwester und 28 weitere Menschen schleuste er so in den Westen.
Sein letztes Projekt an der Ecke Brunnen-/Bernauer Straße wurde verraten
Ein weiteres Tunnelprojekt in der Nähe war auch erfolgreich – doch 1971 wurde sein drittes Unternehmen, ein Schacht unter der Bernauer Straße zum Keller der Brunnenstraße 142, genannt: Tunnel 71, kurz vor Vollendung verraten. Und das, obwohl die Grabungstruppe die verborgene Baustelle zum Schutz vor Denunziationen neun Wochen lang nicht verlassen hatte. Erst 2015 wurde der Verrat durch eine Zufallsentdeckung im Stasi-Archiv geklärt. Ein im Westen tätiger „IM Pokus“ hatte die Staatssicherheit informiert. Den Hinweis bekam er von der Ehefrau eines Mannes aus Herschels Umfeld. Sie hatte mit dem Spion ein Verhältnis angefangen. Mindestens zwölf fluchtwillige DDR-Bürger wurden am Tunneleingang verhaftet.
Es war Herschels letzte Fluchthilfe-Aktion. Heute lebt er in der Uckermark. Am Donnerstag war er als Zeitzeuge gemeinsam mit Ulrich Pfeifer in die Braugewölbe eingeladen. Auch Pfeifer hat damals am Tunnel 71 mitgearbeitet und vor allem dessen Verlauf exakt vermessen. Nun wird ihr glückloser Stollen bald zum Erinnerungsort. Ein kleiner Trost für beide.
Mehr Infos zum Verein Berliner Unterwelten und zu dessen Führungen: www.berliner-unterwelten.de