Alter Glaube, neue Heimat: Neue jüdische Gemeinde in Berlin
Jüdisch-orthodox und weltzugewandt leben? Das geht nirgends so gut wie in Berlin, sagen die Gründer einer neuen Gemeinde. In der "Gemeinschaft Israels" wird ab Dienstag gebetet, gelehrt und gesungen. All das in nachbarschaftlicher Atmosphäre.
Am Schabbat ins Auto steigen oder den Bus benutzen? Undenkbar. Fleischige und milchige Speisen gemeinsam zubereiten? Ausgeschlossen. 70 jüdische Familien, Paare und Singles, gekommen aus der ganzen Welt, um in Berlin zu arbeiten und ihren Glauben zu leben, haben jetzt eine eigene Gemeinde gegründet. Am Dienstag wird der Start der neuen Gemeinschaft „Kahal Adass Jisroel“ offiziell gefeiert. Der hebräische Name bedeutet so viel wie „Gemeinschaft Israels“.
Eine Synagoge haben die Gläubigen schon gefunden: Sie beten im jüdischen Lehrhaus im Hinterhof in der Brunnenstraße 33. „Es passt einfach alles“, sagt Doron Rubin. Er ist Anfang 30, Anwalt, verheiratet, Vater zweier Kinder und im Vorstand der neuen Gemeinde. Seine Frau und er haben Jura in Süddeutschland studiert und danach lange nach einer Stadt gesucht, in der sie ihr Jüdischsein nach strengem Ritus leben können – ohne scheel angeschaut zu werden, wenn er einen Hut aufsetzt und sie ihr Haar bedeckt. Und ohne sich rechtfertigen zu müssen, dass sie mehrmals am Tag beten.
Auf der Suche nach neuen Räumen
Die Rubins suchten auch einen Kindergarten und eine Schule, wo genau das vermittelt wird. „Hier fanden wir viele Familien, denen es genauso geht“, so Rubin weiter. Zum Beispiel die Fabians und Bergers, die auch zur Gemeindeleitung gehören. „Nirgendwo kann man den orthodoxen jüdischen Glauben so gut mit dem säkularen Leben verbinden wie in Berlin“, bemerkt Michelle Berger. Sie hat drei Kinder und arbeitet als Marketing-Beraterin.
Was sie suchten, fanden die Familien allerdings nicht unter dem Dach der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Die ist ihnen theologisch fremd. Sie fanden es bei der Ronald-S.-Lauder-Stiftung. Lauder, Sohn der Kosmetikproduzentin Estée Lauder und Präsident des World Jewish Congress, gründete vor 20 Jahren eine Stiftung, um jüdisches Leben besonders in Osteuropa neu zu begründen. Vor 13 Jahren baute die Stiftung in Berlin ein Lehrhaus mit Schule und Kindergarten auf. Jüdische Männer aus ganz Europa kommen her, um ein, zwei Jahre aus ihrem weltlichen Beruf auszusteigen und ihre Religion zu studieren. Viele bleiben in Berlin und gründen hier Familien. Die Räume in der Synagoge in der Rykestraße wurden schnell zu klein, vor acht Jahren zog das Lehrhaus in die Brunnenstraße.
Dort öffnen Doron Rubin, Michelle Berger und Daniel Fabian die Tür und führen in einen kleinen Raum mit Sitzreihen aus dunklem, edlem Holz, einem Toratisch und Bücherregalen ringsum. In den vorderen Reihen haben sich junge Männer Gebetsschals umgelegt und sprechen und singen Gebete. „Am Schabbat ist kaum ein Sitzplatz zu bekommen, so voll ist es dann“, erwähnt Daniel Fabian. Die Frauen sitzen auf der Empore, durch einen Sichtschutz von den Männern unten getrennt.
In der Tradition von "Adass Jisroel"
Die Bergers, Rubins und Fabians wohnen in der Nachbarschaft, so wie die anderen rund 250 Gemeindemitglieder. Fast die Hälfte ist unter 18 Jahre alt, kaum einer älter als 50. „Jeder kennt jeden, auch weil wir ganz ähnliche Leben haben“, so Doron Rubin. Fast alle sind Akademiker, haben Kinder und ähnliche Freizeitvorstellungen. So war es damals wohl auch, 1910, als die Hinterhofsynagoge für einen strenggläubigen polnischen Beterverein gebaut wurde. Das Haus hat die Pogromnacht 1938 überstanden, die Beter wurden ermordet oder wanderten aus. Zu DDR-Zeiten stapelte ein Betrieb hier Kosmetika. Vor zehn Jahren kaufte ein jüdischer Arzt das Haus und richtete es zusammen mit der Lauder-Stiftung wieder als Synagoge her. „Gott möge uns zu sich zurückführen und unsere Tage erneuern wie damals“, steht heute in goldenen Lettern auf dem schwarzen Samtvorhang, der den Toraschrein bedeckt.
Den alten Beterverein der Brunnenstraße gibt es schon lange nicht mehr. Aber eine andere orthodoxe Gemeinde hat in Ost-Berlin bis heute überlebt: die Gemeinde Adass Jisroel. Sie wurde 1869 gegründet als Gegenbewegung zur liberalen Strömung. „Genau in dieser Tradition von Adass Jisroel fühlen wir uns zu Hause“, sagt Michelle Berger. Die alte Adass-Jisroel-Gemeinde hat ihre Synagoge in der Tucholskystraße. Sie hat DDR und Wende überstanden und nach zähen Auseinandersetzungen mit dem Senat sogar den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten. Warum haben sich die Bergers, Rubins und Fabians nicht angeschlossen? „Wir wollen selbst gestalten“, äußert Doron Rubin. Mehr wollen die drei zur alten Adass-Gemeinde nicht sagen, nur so viel: „Da gibt es keinen Kontakt.“ Sie wollen auch nicht in Verbindung gebracht werden mit den Streitereien von vor zwei Jahren, als der Senat gegen Adass Jisroel prozessierte und gewann. Es stellte sich heraus, dass die Gemeinde sehr viel weniger Mitglieder hat als behauptet und über Jahre zu hohe Zuschüsse vom Senat bekommen hatte.
„Wir sind diejenigen, die die eigentlichen Werte und Traditionen von Adass Jisroel vor der Shoa fortführen“, sagt Daniel Fabian. In Israel und in den USA haben sie Nachfahren der früheren Berliner Adass-Rabbiner aufgestöbert. Enkel und Urenkel kommen zur Gründungsfeier. Der jüdische Kindergarten nebenan ist schon wieder zu klein für den vielen Nachwuchs. So schließt sich ein Kreis.
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