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Eine nackte Frau posiert unter einem blühenden Apfelbaum in einem Garten in Werder an der Havel. Das Bild stammt aus dem Jahr 1910.
© Volkmar Wimmer

Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Nackt und streng deutsch

Raus aus den Klamotten: Die frühe Nudistenszene im Kaiserreich will mit Sonnenbädern und Nackttänzen die Gesundheit fördern und den Volkskörper veredeln.

Das Kleid der Zivilisation ist eng, und streng sind die Sitten im Kaiserreich. Die Befreiung der Untertanen aus den Zwängen steifer Kragen und festgeschnürter Korsette findet einstweilen in geschlossenen Gesellschaften oder abgeschiedenen Gärten statt. Einen dieser Gärten besitzt der Schriftsteller und Verleger Karl Vanselow seit 1910 in Werder an der Havel. Auf dem Grundstück seiner „Villa Johanna“ fotografieren er und befreundete Lichtbildner nackte Männer und Frauen, bevorzugt in den Posen griechischer Statuen. Es geht hier nicht um Porno, sondern um Volksbildung. Diesem Anspruch fühlt sich die Lebensreform-Bewegung in ganzheitlichem Sinn verpflichtet: Sonnenbäder und Turnabende im „Luftbadekostüm“, Nackttänze in freier Natur und Sexualaufklärung sollen Geist und Körper – mehr noch: den Volkskörper – veredeln.

Es ist eine höchst elitäre Schar von Naturfreunden, die um die Jahrhundertwende in Berlin und anderen Großstädten Kleider und Konventionen abstreift. Bildungsbürger und künstlerische Boheme machen sich im Adamskostüm auf die Suche nach dem Ideal des vollkommenen Menschen und dem verlorenen Paradies – getreu dem Goethe-Wort: „Der wahre Mensch ist der nackte Mensch.“

Das sah der erste Fitnesstrainer der Nation, Turnvater Friedrich Jahn im frühen 19. Jahrhunderts noch ganz anders. Er postulierte: „Undeutsch ist jede öffentlich zur Schau gestellte Nacktheit.“ Vehement widerspricht ihm 1893 der Schriftsteller Heinrich Pudor, der mit seiner programmatischen Schrift „Nackende Menschen – Jauchzen der Zukunft“ zum Wegbereiter der Freikörperbewegung wird. „Der Mensch muss die Kleider ausziehen, ehe er vollkommen werden kann“, schreibt Pudor, der vor allem dem eingeschnürten Frauenleib den Kampf ansagt: „Kein anständiges Weib sollte ein Korsett tragen.“

Am Wannsee-Strand zieht der "Verein zur Sonne" blank

In der naturreligiösen Seligkeit des Jugendstils schwärmt Pudor, der sich später den sinnigen Namen „Heinrich Scham“ gibt, vom „Kunstwerk“ des menschlichen Körpers, der nackt zu einem „Gott“ werde. Mit seinem Leitspruch: „Für Wiedergeburt! Für geistige Freiheit! Für sittliche Wahrheit! Für künstlerische Schönheit! Und streng deutsch auf allen Wegen!“ weist der bekennende Antisemit Pudor seiner nackten Gefolgschaft den völkisch-nationalistischen Weg.

Selbst nackedei ist der kaiserliche Untertan treudeutsch und pädagogisch gesinnt. In der frühen Freikörperkultur vereinigen sich Naturheilkunde, Sportgymnastik, Vegetarismus, religiöse, biologistische und völkische Lehren. Die Lebensreformer berufen sich auf den Schweizer Naturheiler Arnold Rikli, der 1854 eine Sonnenheilanstalt begründete, in der Besucher, „von der Hülle der Kleider befreit“, die gesundheitsfördernde und reinigende Wirkung des „Lichtluftbades“ erfahren konnten. Bis 1912 entstehen 380 „Licht- und Luftbäder“, betrieben von Vereinen, an Seen oder in Sportanlagen. Die Mitglieder der Logen namens „Hellas“, „Luise“ oder „Swastika“ treffen sich in Privatwohnungen, in Turnräumen oder an abgelegenen Badestellen, so wie der „Verein zur Sonne 1908“, der sich am nördlichen Wannsee-Strand niederlässt.

Mit seiner Zeitschrift „Die Schönheit“ wird der Publizist Karl Vanselow ab 1903 zu einem wichtigen Netzwerker der Nudistenszene. Bei seinen „Schönheits-Abenden“ werden Ringkämpfe aufgeführt, Bodybuilder präsentieren „lebende Marmorbilder“ – auch Vanselows Frau Olga Desmond zieht blank. Zu den Gästen zählen der völkische Maler Hugo Höppener (Künstlername: Fidus) und der Biologe Willibald Hentschel. Der Sozialdarwinist träumt von ländlichen Züchtungsfarmen für reinrassige nackte Arier. Er ist beileibe nicht der einzige Sonnenbruder mit hirnverbrannten Ideen.

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit lesen Sie unter: www.tagesspiegel.de/fraktur

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