„Ostbands spielen wir nicht“: Musik aus der DDR in Vergessenheit geraten
Nach dem Mauerfall wurde Musik aus dem Osten kaum noch beachtet. Der letzte Chef des Plattenlabels Amiga will das ändern. Was treibt ihn an?
Jörg Stempel kramt in seiner schwarzen Aktentasche, schiebt zwei Zettel herüber. „Schauen Sie!“ Auf dem Tisch liegen ausgedruckte Mails, die der Berliner Musikmanager vor einigen Tagen an das ZDF verschickt hat. Betreff: „Gottschalks große 80er-Show“. Stempel schreibt, er sei im Laufe der dreistündigen Show immer ratloser geworden. Er habe irgendwann nicht mehr gewusst, ob er hier überhaupt mitgemeint sei als Ostdeutscher. „Meine musikalischen Erinnerungen, geschweige denn mein Alltag, kamen überhaupt nicht vor.“
Jörg Stempel, 63, ist ein sportlicher, grauhaariger Mann. Kaum einer kennt sich in der DDR-Musikszene so aus wie er. Stempel verwaltet heute im Auftrag von Sony, was der real existierende Sozialismus an Musik hervorgebracht hat: das Erbe des staatlichen DDR-Musik-Labels Amiga. Und er kämpft 30 Jahre nach dem Mauerfall um Anerkennung dafür.
„Fragen Sie mal einen Musikfreund aus Wanne-Eickel, was der aus dem Osten kennt? Der zählt ihnen auf ,Alt wie ein Baum‘ und ,Über Sieben Brücken‘ – das war’s.“ DDR-Musik, sagt Stempel, sei nie in der Bundesrepublik angekommen.
Als es mit dem Mauer-Staat 1990 zu Ende ging, wurde der gesammelte Musik-Schatz der DDR an einen norddeutschen Autohändler verkauft. Ein Repertoire von mehr als 30 000 Titeln, rund 2200 Schallplattenproduktionen und etwa 5000 Singles; verscherbelt, wie so vieles nach der Wende, an einen Ahnungslosen. 1993 kaufte dann das Label BMG, Vorläufer von Sony, die Amiga-Bestände auf. 3,9 Millionen Euro ließ der Musikkonzern springen. Kleingeld. Der Kauf hatte sich schon nach einem Jahr amortisiert.
Nach der Wende setzt sich internationale Musik durch
Stempel, der bereits zu DDR-Zeiten für Amiga tätig war, wurde damals zum Verwalter dieses Erbes ernannt. Anfangs sei es schon schwierig gewesen, das zu vermarkten, sagt er. Die Leute im Osten wollten erstmal das Neue hören. Internationale Musik. Die roch nach Freiheit und wurde besser vermarktet, gibt Stempel zu.
Ab 1993 fingen dann die ersten sogenannten „Ostalgie“-Partys an. Ab da brachte Stempel zu jedem Anlass gesammelte Ost-Werke rausgebracht: 5 Jahre Mauerfall, 10 Jahre ... , 15 Jahre ... , und allein 17 Best-ofs von den Puhdys. Verkaufte sich toll – zumindest zwischen Görlitz und Eisenach. Im Radio und Fernsehen lief dagegen kaum noch DDR-Musik. „Ich habe damals unterschätzt, dass die Klischees über den Osten in den Medien nicht so leicht abzubauen waren“, sagt Stempel. Beim SWR habe er mal ein neues City-Album angeboten. Die Antwort des Redakteurs: „Ostbands spielen wir nicht.“ Das war 1997. Stempel klingt noch heute enttäuscht, wenn er davon erzählt.
Bislang ist die soziale und politische Rolle von Musik nach dem Mauerfall kaum erforscht. Einer der wenigen, der sich intensiv mit Musik aus dem Osten auseinandersetzt, ist der Musikwissenschaftler Jakob Auenmüller (30), ein halbes Jahr vor dem Mauerfall bei Dresden geboren. Er schreibt gerade seine Doktorarbeit zum Thema: „Getrennt vereint? Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern nach 1990“. Musik, schreibt Auenmüller, habe eine Vermittlungsfunktion, bildet auch gesellschaftliche Brüche ab. Sei sie „deshalb nicht eine sehr geeignete Form den Dialog zwischen Ost und West neu zu entfachen?“
„Die Zäsur nach 1990 ist extrem gewesen“
Auenmüller untersucht in seiner Arbeit, welchen Stellenwert Musik aus der DDR nach dem Mauerfall hatte. „Die Zäsur nach 1990 ist extrem gewesen“, sagt er. Einige wenige Bands wie Karat, die Puhdys oder Silly hätten sich zurecht gefunden in der Bundesrepublik, viele andere spielten noch vor einer kleinen Stamm-Hörerschaft dem Ost-Gefühl hinterher, andere seien ganz zerfallen.
An der Qualität der Musik habe das nicht unbedingt gelegen: Im staatlich organisierten Musiksektor gab es fast ausschließlich studierte Profi-Musiker – wer öffentlich auftreten wollte, musste zunächst vorspielen. Die vielfältigen Arrangements und die bildhafte Sprache, um Politisches durch die Zensur zu schmuggeln, hätten dem West-Niveau nicht nachgestanden.
Viele Ostdeutsche wollten sich nach dem Mauerfall aber eine westdeutsche Identität aneignen, konstatiert Auenmüller. Deshalb haben sie sich erstmal für West-Musik interessiert – andersherum gab es kaum einen Austausch. „Bei vielen Westdeutschen – das möchte ich aber niemandem vorwerfen – gibt es ein Desinteresse und eine Ignoranz für Musik aus dem Osten. Das ist bis heute so“, sagt Auenmüller. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall, das haben seine Untersuchungen ergeben, sei die „Repertoire-Landschaft“ einerseits eher ost-, andererseits eher westdeutsch geprägt; ein gemeinsamer musikalischer Kanon fehlt.
[Die Box „Die 100 besten Ost-Songs“ erscheint am Freitag bei Amiga/Sony und kostet 19,99 Euro (Vinyl) und 39,99 Euro (CD).]
Musikmanager Jörg Stempel glaubt, dass auch die fehlende Anerkennung ein Grund für die Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher sei. „Was ist denn die Identität eines Volkes? Kaum jemand definiert sich über die geilsten Werkzeugmaschinen“, sagt er, „Musik ist aber ganz wichtig.“ Stattdessen käme häufig, wenn sich Menschen an die DDR erinnerten, der Vorwurf der „Ostalgie“. Stempel: „Das nervt mich.“ Es sei normal, dass heute Musik aus den 68er oder 80er Jahren im Fernsehen hochgejubelt werde. „Und wenn wir uns erinnern, soll das Ostalgie sein?“
„Das ist eine echte Werkschau des Ostens“
Er will das Gegenteil beweisen. Mehr als zwei Jahre hat er deshalb an einem Konzertformat für den Musiksender MTV gearbeitet: „MTV Unplugged – Amiga“. Sein Plan: DDR-Musik-Stars, junge ostdeutsche Künstler wie Marteria oder Kraftklub und westdeutsche Musikhelden wie Lindenberg oder Grönemeyer spielen aus dem Amiga-Repertoire. Es scheiterte. „Eine Riesen-Enttäuschung.“ MTV wollte es, Sony auch – nur die westdeutschen Musiker nicht, sagt Stempel. „Da kam keine explizite Absage, sondern entweder gar keine Antwort oder Terminschwierigkeiten.“
Wie groß das Interesse wohl gewesen wäre, zeigte ein Sonntag im Juli 2019. Auf Initiative Stempels spielte RadioEins einen ganzen Sonntag lang „Die 100 besten Ost-Songs“. Eine Jury hatte zwischen Schlager, Jazz, Funk, Pop und Punk die bedeutendsten, schönsten Stücke ausgewählt. Das Interesse war riesig, die zehnstündige Show war eine der erfolgreichsten des Jahres.
Stempel wäre nicht Stempel, hätte er nicht sofort reagiert: Nun erscheinen diese Lieder auf CD und Vinyl. Der Autor Christoph Dieckmann hat den Booklet-Text geschrieben, nennt die Zusammenstellung ein „Landesklangarchiv“. Jörg Stempel sagt: „Das ist erstmal eine echte Werkschau des Ostens.“ Ob Musikfans aus Wanne-Eickel künftig wissen, dass „Herbst in Peking“ mehr ist, als eine Jahreszeit in Chinas Hauptstadt? Dass man auf ungarisch singen und trotzdem von Kanye West gesampelt werden kann? Und dass es ohne Feeling B wohl Rammstein nie gegeben hätte? Wer weiß. Aber der „letzte Amiga-Chef“, wie sich Stempel nennt, hat der Musik der DDR immerhin noch ein kleines Denkmal errichtet.