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Ort des Terrors und der Fragen. Am Breitscheidplatz wird der Opfer des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt gedacht.
© Maurizio Gambarini/dpa

Berlin-Charlottenburg: Mulmige Gefühle am Breitscheidplatz

Nach dem Anschlag in Barcelona spüren Menschen auch in der West-City eine neue, alte Angst.

Es gibt Erdbeerbowle und frisch gepressten Orangensaft an diesem Stand, und natürlich frisch gezapftes Bier. Zwei Meter weiter sitzen vier Männer an einem Holztisch und prosten sich mit dem Bier zu, dass sie hier geholt haben. Sie lachen, aber am Zapfhahn steht eine blonde Frau und sagt: „Natürlich habe ich Angst.“

Natürlich. Vor acht Monaten überrollte hier Anis Amri mit einem Lkw zwölf Menschen, tötete sie und verletzte 56 weitere. Ein Meter vor dem Holztisch steht eine hüfthohe, zwei Meter breite Betonmauer. Eines von vielen Betonhindernissen an diesem Platz.

Der Breitscheidplatz ist kein normaler Ort mehr. Und seit den Anschlägen von Barcelona kommen wieder Bilder hoch. Die Bilder von der Panik beim Weihnachtsmarkt, die Bilder von blutenden, schreienden Menschen.

Die blonde Frau war mit ihrem mobilen Getränkestand auf dem Weihnachtsmarkt am Alex, als Amris Lkw Leute überrollte. Jetzt ist Sommerfest auf dem Breitscheidplatz, der Platz ist voll mit Buden.

Noch immer hunderte Kerzen zum Gedenken

Und mit Touristen. Viele gehen zu der Stelle hinter dem Getränkestand, wo immer noch hunderte Kerzen stehen und Kreuze, wo auf einem weiß lackierten Holzschild geschrieben steht „Give peace a chance“.

Jetzt, am Samstagvormittag, stehen Ronald Ward und Joachim Auerbach vor der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche, vor dem Mahnmal für die Opfer des Anschlags. Zwei massige Männer, über deren Bauch sich Fan-Shirts des VfB Stuttgart wölben. Der VfB sollte am Nachmittag gegen Hertha BSC spielen.

Es ist eine Zeitreise in die Vergangenheit. „Wir waren zwei Wochen vor dem Anschlag hier, wir haben gesehen, wie sie die Buden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut haben“, sagt Ward. Dann, Tage später, die Bilder des Attentats. „Da denkt man, das hättest auch du sein können.“

Jetzt, vor den vielen Kerzen, sagt Auerbach, „empfindet man ein bedrückendes Gefühl“. Aber „man darf sich davon nicht überwältigen lassen, sonst kann man sich nur noch einschließen“. So ein Anschlag könne überall passieren. Und ja, das gehört auch dazu: „Man verdrängt alles.“

Zickzack zwischen Gefühl und Verstand

Auch eine Frau im gestreiften Polohemd steht vor den Kerzen. Eine freundliche Frau Mitte 50 aus Ratzeburg. „Boysen“ heißt sie mit Nachnamen, den sagt sie. Aber den Vornamen? Soll sie? Okay, sie heißt...nein, lieber doch nicht. „Einfach Frau Boysen“. Diese paar Sekunden offenbaren ihren Gefühlszustand. Denn Frau Boysen hat immer noch ein mulmiges, irrationales Gefühl. Im Mai war sie beim Pokalfinale in Berlin. Da war es nicht bloß ein mulmiges Gefühl, „da hatte ich Angst. Ist es das wert?, habe ich mich gefragt“.

Ein Zickzack zwischen Gefühl und Verstand. Sie weiß, dass so etwas überall passieren kann, sie weiß, dass sie sich von Angst nicht ihr Leben bestimmen lassen darf, aber dann ertappt sie sich doch, „wie ich immer wieder links und rechts schaue, welche Leute da sind“. Verhält sich jemand verdächtig? Ist da irgendetwas Besonderes. Sie denkt über ihre Weigerung nach, ihren Vornamen zu sagen. Vielleicht, sagt sie, sei sie ja schon gefangen in dieser Gedankenwelt. Andererseits, fragt sie: „Was kann man dagegen tun, es kann ja überall passieren?“

Ein älterer Man mit Halbglatze und schwarzer Brille ist da distanzierter. „Ich habe hier keine spezielle Angst“, sagt er. „Gegen einen Anschlag ist niemand gefeit.“ So sieht es die Frau im Getränkestand ja auch, aber sie steht hier tagelang, sie hat einen anderen Bezug zu diesem Ort als ein Tourist. Und deshalb hat sie auch Angst. „Aber ich kann mich nicht verstecken.“ Letztlich bleibt ja doch nur die Hoffnung, dass nichts passiert.

20 Meter neben der Kirche steht ein junger Mann und verteilt gelbe Kärtchen. In roter Schrift steht gedruckt: „Gott liebt Dich.“

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