Gewalt an Berliner Schulen: Mobbing kann jeden treffen
Es gibt wahrscheinlich viel mehr Mobbingopfer als bisher bekannt. Das liegt auch daran, dass Schulen solche Fälle bisher nicht melden müssen.
Mit kleineren Gemeinheiten fängt es an, und am Ende stehen oft schwere körperliche oder psychische Schädigungen. Mobbing ist ein Dauerproblem an Schulen und betrifft tausende Kinder und Jugendliche. Den Tätern geht es meistens um Macht und Einflussnahme.
Ein solches Dominanz- und Ausgrenzungsverhalten spielte sicherlich auch bei den Vorfällen an der Paul-Simmel-Grundschule in Tempelhof eine Rolle, wo wie berichtet mehrere nichtmuslimische Kinder von muslimischen Kindern bedroht wurden. Die Vorfälle hatten eine breite Debatte über religiöses Mobbing ausgelöst.
Berliner Schulen müssen Mobbing-Fälle nicht melden
Wie verbreitet Mobbing an Schulen ist – darauf warf die Pisa-Studie 2017 ein Licht, bei der es um das Wohlbefinden von Jugendlichen ging. Rund 16 Prozent der befragten deutschen Neuntklässler gaben an, Mobbing erlebt zu haben. 16 Prozent – das würde auf die gesamte Berliner Schülerschaft bezogen bedeuten, dass mindestens 50.000 Kinder und Jugendliche betroffen sind.
In der Statistik der Senatsbildungsverwaltung tauchten im ersten Halbjahr 2016/17 dagegen nur rund 50 Mobbingfälle auf. Das liegt auch daran, dass Mobbing im Meldeverfahren zu einem Vorfall des niedrigsten Gefährdungsgrades I gezählt wird: Schulen sind nicht verpflichtet, diese Vorfälle zu melden, können es aber freiwillig tun.
Das Meldeverfahren ist umstritten und wird derzeit von der Bildungsverwaltung evaluiert. Der SPD-Abgeordnete Joschka Langenbrinck fordert, dass auch Vorfälle des Gefährdungsgrades I meldepflichtig sind. Die Dunkelziffer ist bei Mobbing mit Sicherheit hoch.
Was ist Mobbing?
Manchmal, auch das sei gesagt, wird von Mobbing gesprochen, obwohl es sich um einen anderen Konflikt handelt. Nicht jeder Streit, nicht jede Rangelei fällt unter die Definition von Mobbing. Von Mobbing spricht man, wenn eine Person über eine längere Zeit wiederholt und systematisch den negativen Handlungen anderer ausgesetzt ist. Die Grenzen zwischen Mobbing und Diskriminierung sind fließend, Diskriminierung geht oft mit Mobbing einher.
In der „Berlin-Brandenburger Anti-Mobbing-Fibel“, einem Handbuch für Lehrkräfte, werden die Phasen des Mobbings beschrieben. Es beginnt mit einzelnen Gemeinheiten. Mit herablassenden Kommentaren beispielsweise über das Aussehen, Gewohnheiten oder Eigenschaften. Mit Lästereien, Auslachen, Sachenwegnehmen und Rempeleien.
Vieles davon spielt sich mittlerweile in sozialen Medien ab – man spricht von Cybermobbing. Besonders perfide daran ist, dass es keinen Rückzugsort gibt. „Normales“ Mobbing endete oft am Schultor, Cybermobbing kann rund um die Uhr stattfinden.
Wenn in der ersten Phase nichts unternommen wird, kann sich Mobbing verfestigen. Die Gemeinheiten gehen meist nicht von der ganzen Klasse, sondern von Einzelnen aus. Sie werden aber dadurch dauerhaft ermöglicht, dass es genügend Zuschauer gibt, die nicht einschreiten, und Helfer, die das Verhalten des Mobbers nachahmen und von seinem Einfluss profitieren wollen.
Je mehr Schüler sich beteiligen, desto geringer wird das Schuldgefühl der Einzelnen. Das Opfer wird immer unsicherer, verhält sich deshalb auffälliger und wird dadurch noch anfälliger für die Demütigungen. Es zweifelt schließlich stark an sich, gibt sich selbst die Schuld, vereinsamt immer mehr und entwickelt gesundheitliche Beschwerden. Allein kann es sich aus dieser Situation in der Regel nicht befreien. Häufig kommt es vor, dass das gemobbte Kind schließlich die Schule wechselt.
Mobbing erfordert den Beistand und das entschlossene Handeln Erwachsener, heißt es in der Anti-Mobbing-Fibel. Eltern und Lehrkräfte sind also in der Verantwortung. Vor diesem Hintergrund ist es besonders erschreckend, dass laut Anti-Mobbing-Fibel 20 Prozent der gemobbten Schüler Lehrer als Täter oder Mittäter angeben.
Eltern müssen handeln
„Jeder Fall muss ernst genommen werden“, sagte Landeselternsprecher Norman Heise. Eltern, deren Kind drangsaliert wird, sollten sich sofort an die Lehrer wenden. An etlichen Schulen werde dann schnell und konsequent reagiert. „Aber es gibt auch immer wieder Schulen, die lieber wegschauen.“
Wenn Eltern das Gefühl haben, von der Schule nicht ernst genommen zu werden, sollten sie sich an die Schulaufsicht oder an das Beschwerdemanagement der Bildungsverwaltung wenden. Heise weist darauf hin, dass Schulen sich nicht mit einer vermeintlichen Hilflosigkeit herausreden können.
Schließlich gebe es in jedem Bezirk ein Schulpsychologisches und Inklusionspädagogisches Beratungszentrum (SIBUZ) und dort erfahrene Schulpsychologen, die sich mit Mobbing auskennen. Das ist auch eine der wichtigsten Anlaufstellen für Eltern und Schüler. Sie sollen dort Unterstützung bekommen.
„Schüler und Eltern müssen wissen, an wen sie sich wenden können“, sagt Franz Kloth vom Landesschülerausschuss. Welchen Lehrer oder Sozialarbeiter kann man ansprechen, wer gehört zum Krisenteam der Schule, wie ist die Telefonnummer der Schulpsychologie – solche Informationen sollten alle Schüler und Eltern kennen.
Das sei noch nicht an allen Schulen Standard, sagt Kloth. Dass oft nicht genug gegen Mobbing unternommen werde, liegt seiner Meinung nach auch an überlasteten Lehrkräften, fehlenden Räumen und mangelnder Regeldurchsetzung. „Man sollte sich auch bemühen, die ‚Alphatiere‘ und Mobber wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Aber wenn nach intensiven Gesprächen weitergemobbt wird, muss es Sanktionen geben.“ Zudem sollte mehr für eine positive Schulatmosphäre getan werden.
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) setzt auf die Krisenteams und will sie an allen Schulen verpflichtend machen. Dazu ist eine Schulgesetzänderung geplant. Schon jetzt gibt es die Krisenteams an rund 90 Prozent der Schulen. Der Landesschülerausschuss teilt diese Forderung und spricht sich zudem für eine Meldepflicht für Mobbingfälle aus, damit ein klareres Bild des Ausmaßes entstehen kann.