Auszeichnung für W. Michael Blumenthal: Mittler zwischen den Welten
W. Michael Blumenthal wird ausgezeichnet – für die pädagogischen Projekte des Jüdischen Museums mit Migranten.
Als W. Michael Blumenthal 1997 Direktor des Jüdischen Museums wurde, übernahm er ein Ehrenamt. Anderthalb Jahre wollte er das machen. Für den damals 71-Jährigen gab es gar keinen Grund, sich noch beweisen zu müssen. Berlin verdiene es, ein eindrucksvolles Jüdisches Museum zu haben, sagte er. Der frühere US-Finanzminister wollte sein Bestes tun, um die Sache aufs richtige Gleis zu bringen und Brücken schlagen zwischen den Parteien und Interessen.
Fünfzehn Jahre später spricht er aus Anlass der offiziellen Einweihung der Akademie des Museums vor einem amtierenden und einem ehemaligen Bundespräsidenten und anderen Top-Honoratioren und zieht Bilanz: „Das Jüdische Museum ist eine bedeutende Institution geworden, die weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt und geschätzt ist. Eine dreiviertel Million Besucher jährlich, schon über acht Millionen Menschen sind bereits im JMB gewesen…“ Später sagt er: „Wir sind ein Museum, das die lange Geschichte deutschsprachiger Juden seit der Römerzeit darstellt.“ Mit der Akademie wolle man mehr als ein Museum sein, wolle besonders junge Menschen daran erinnern, dass „aus der Geschichte gelernt werden muss über die Gefahren von Intoleranz und Vorurteilen gegenüber religiösen oder jedweden ethnischen Minderheiten“.
Am Montag erhält Blumenthal in der Mendelssohn-Remise den Estrongo-Nachama-Preis für Toleranz und Zivilcourage 2014. In der Begründung werden besonders die von ihm initiierten pädagogischen Maßnahmen bei der Vermittlung der Inhalte des Jüdischen Museums an Besucher mit Migrationshintergrund hervorgehoben. Andreas Nachama, der Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung Meridian, die den Preis vergibt, lobt zudem Blumenthals Aufarbeitungsarbeit der deutsch-jüdischen Vergangenheit als „vorbildhaft und beispiellos“.
Der Preis erinnert an Nachamas Vater, den ehemaligen Oberkantor Estrongo Nachama, der am 4. Mai 96 Jahre alt geworden wäre. Seine Familie hat er in Auschwitz verloren, konnte selbst nur durch seine schöne Stimme überleben und feierte den 5. Mai, den Tag seiner Befreiung durch die Rote Armee für den Rest seines Lebens als neuen Geburtstag. Im Jahr 2000 ist er gestorben. Er hat Blumenthal noch persönlich kennengelernt, war aber Ende der 90er Jahre schon zu sehr von Krankheit geplagt, als dass sich eine Freundschaft hätte entwickeln können. Andreas Nachama hat ihn besser kennengelernt. „Wenn das einer schafft, dann er“, hat er schon damals gedacht, als Blumenthal mit seinem typisch amerikanischen Selbstvertrauen antrat, das Projekt aus dem Klein-Klein der Berliner Interessenkonflikte herauszulösen. Aus der Sicht des Rabbiners hat es geholfen, dass Blumenthal finanziell vollkommen unabhängig war und sich das schwierige Ehrenamt leisten konnte. Wie lange Blumenthal seine Energie dem Museum schenken wird, darüber denkt er gar nicht nach. „Auch in der Bibel kommt das Wort ‚Pensionierung' nicht vor“, sagt er.
Der nach Nachama benannte Preis reiht sich ein in eine Vielzahl internationaler Ehrungen, mit denen der 88-jährige Blumenthal bereits bedacht wurde. Die Liste seiner Verdienste war ja eigentlich schon mehr als prall gefüllt, als er das Amt als Museumsdirektor antrat. Geboren wurde er 1926 in Oranienburg als Kind einer jüdischen Bankiersfamilie. Als die Bank der Weltwirtschaftskrise zum Opfer fiel, machten die Eltern am Olivaer Platz ein Damenmodengeschäft auf. Werner Blumenthal liebte damals sein Kindermädchen und beneidete die Hitlerjungs in der Schule mit ihren schneidigen Uniformen und den tollen Ausflügen. Er litt sehr unter dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein, als minderwertig betrachtet zu werden. Der Vater kam 1938 nach der Pogromnacht ins KZ Buchenwald. Nach seiner Entlassung floh die Familie nach Schanghai. Es war die wirklich letzte Chance, aus Deutschland herauszukommen. Viele seiner Schulfreunde hat Blumenthal für immer verloren, weil sie von den Nazis ermordet wurden. In Schanghai trennten sich die Eltern, das Leben war hart für sie ohne Geld und ohne Sprachkenntnisse. Mit 16 Jahren war er auf sich allein gestellt, schlug sich als Hilfsarbeiter im Hafen durch, lernte Chinesisch. In dieser Zeit, erinnerte sich Blumenthal, muss sein Wunsch gereift sein, Chef zu werden, sein eigenes Schicksal bestimmen zu können.
Aus dieser Zeit stammt wohl auch seine Härte als Verhandlungspartner. Als er im Jahr 2000 Politikern vermitteln sollte, dass mehr Geld gebraucht würde, wenn es nicht bei einer bescheidenen Ausstellung in einem außergewöhnlichen Bau bleiben solle, nämlich 28 Millionen DM im Jahr, konnte er sich über die Frage, wie das alles geregelt werden sollte, leicht hinwegsetzen: „Es ist Ihr Land, und es sind Ihre Probleme.“ Wenn man wolle, dass er da sei, müsse man ihm halt vertrauen. Ein konkretes Konzept hatte er da noch gar nicht. Allerdings jede Menge Übung darin, sich auf Unbekanntes einzulassen.
Mit 60 Dollar in der Tasche erreichte er 1947 im Alter von 21 Jahren Amerika. Er arbeitete als Liftboy und Lastwagenfahrer und wurde leidenschaftlicher Amerikaner. Seine Eltern folgten ihm später. Blumenthal studierte Wirtschaft, kehrte 1953 für ein Jahr nach Deutschland zurück, um an seiner Dissertation über die Mitbestimmung in der Stahlindustrie zu arbeiten, lehrte schließlich drei Jahre lang an der renommierten Universität Princeton. Danach ging er in die Privatwirtschaft, wurde ein erfolgreicher Manager. John F. Kennedy holte ihn 1961 als Wirtschaftsexperte ins State Department, später wurde er Chefunterhändler bei den internationalen Handelsgesprächen in Genf, entwickelte sich außerdem zu einem angesehenen Industrieführer. In der Regierung von Jimmy Carter war er zwei Jahre lang Finanzminister. Sein Vermögen machte er mit Kronkorken und in der Computerindustrie.
Kurz vor der Jahrtausendwende erschien sein Buch über 300 Jahre Familiengeschichte auf Deutsch. „Die unsichtbare Mauer“ hieß es, und die Leser erfuhren, dass zu seinen Vorfahren unter anderem die große Salonière Rachel Varnhagen und der Komponist Giacomo Meyerbeer gehörten. In dieser Zeit wurde auch das Libeskind-Gebäude in der Lindenstraße fertiggestellt. Im Jahr 2000 wurde W. Michael Blumenthal Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Oranienburg. Zur Zeremonie brachte er seine fünf Jahre ältere Schwester Stefanie und seinen damals 14-jährigen Sohn mit.
Das Pendeln zwischen den Welten gehörte zu seinem Arbeitsrhythmus. An eine Rückkehr nach Deutschland dachte er nie, dazu war Amerika zu gut zu ihm gewesen. Nach Jahren der Flucht und Unterdrückung hatte im Land der unbegrenzten Möglichkeiten für ihn endlich das Leben im Steigflug begonnen: „Nichts übertraf das wunderbare Gefühl, dazuzugehören“, beschrieb er seine Gefühle. Mal nahm er die Concorde, mal die „Queen Mary“, um ins alte Europa zu gelangen, wo es für ihn noch so viel zu tun gab. An Aufhören war nicht zu denken.
Im Jahr 2010 legte er seine persönlichen Erinnerungen als Buch vor „In 80 Jahren um die Welt“. Darin macht er aus seinen Sympathien für das neue Berlin kein Hehl. Manches Finanzierungsproblem mit dem Jüdischen Museum nahm er später selbst in die Hand und zwar im großen amerikanischen Stil. Anlässlich der Fertigstellung des Gebäudes lud er 1999 zum ersten großen Fundraising Dinner in das noch leere Gebäude. Rund 600 Gäste kamen, darunter auch der Bundeskanzler. Ihnen erläuterte der Direktor sein Konzept. Die Besucher sollten künftig sehen, dass Juden hier einmal schaffende Bürger waren, die viel zum deutschen nationalen Leben beigetragen haben. Unter allen Umständen wollte er es vermeiden, dass besonders jüngere Besucher Juden nur als Opfer kennen und erkennen. Gerhard Schröder war begeistert, dass „nicht nur die furchtbare Geschichte gezeigt werden solle, sondern auch die fruchtbare“.
Diese Geschichte hatten beim letzten Fundraising Dinner im November schon über neun Millionen Menschen gesehen, davon zwei Drittel aus dem Ausland. Als Amerikaner zeigte sich Blumenthal stolz darauf, hier mit seinen Mitarbeitern eines der wichtigsten Jüdischen Museen der Welt geschaffen zu haben. Für Andreas Nachama, den Leiter der „Topographie des Terrors“, ist das Museum vor allem auch „eine Begegnungsstätte der Akzeptanz und Toleranz“. Dass sich sein Preisträger hier für genau die Werte eingesetzt hat, deren völlige Abwesenheit er als Kind erfahren hat, ist vielleicht das Erstaunlichste an dieser Geschichte.
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