Berlin: Mit jedem Schritt ein bisschen größer
Für das Projekt „Modern Times“ mussten 200 Schüler hart trainieren. Heute bringen sie es mit Sir Simon Rattle und den Philharmonikern auf die Bühne
„And hold!“ Die warme, melodische Stimme ist kaum verklungen, da bricht wieder der ohrenbetäubende Lärm aus. Jubel, Anfeuerungsrufe, begeistertes Geschnatter der Kleinen. Es ist laut in der Treptower Arena an diesem Abend, die Aufregung zu spüren. Die melodische Stimme, elektronisch verstärkt, gehört der britischen Choreografin Aletta Collins. Auf einem Podest stehend, beendet sie den 24-minütigen Durchlauf von Igor Strawinskys „Les Noces“, einem Teil des Tanzprojektes „Modern Times“. Es ist der letzte Probentag ohne Kostüme und Licht – und noch ohne die Berliner Philharmoniker. Am heutigen Sonntag wird das anders sein: Dann bringt Simon Rattles weltberühmtes Orchester gemeinsam mit den mehr als 200 Berliner und Potsdamer Schülern, Jugendlichen und auch Senioren drei neue Choreografien zur Aufführung. Für die meisten Mitwirkenden ist es der erste Auftritt auf einer Bühne – und dann gleich vor mehreren tausend Menschen. Auch wenn viele davon Eltern, Klassenkameraden und Freunde sein werden: „Ich bin schon ganz schön nervös“, sagt Michelle, zupft an ihren langen braunen Haaren und tänzelt barfuß hin und her. Es fällt der Neunjährigen sichtlich schwer, ruhig zu stehen.
Seit fünf Wochen wird hart trainiert. Anfangs zweimal drei Stunden die Woche, jetzt aber, so kurz vor der Aufführung, wird immer wieder geprobt. Nein, das ist keine Laienaufführung, da sind Profis am Werk. Das merkt man schon an den vielen Helfern, die mit Headsets in der riesigen Arena herumlaufen und Anweisungen geben, und an dem BBC-Team, das die Proben filmt und in den kurzen Pausen Interviews führt.
Seit dem gefeierten Dokumentarfilm „Rhythm is it!“ haben die Education-Tanzprojekte der Philharmoniker Kultstatus. „You can change your life in a dance class“, hat Royston Maldoom, Choreograf bei jenem ersten Tanzprojekt, gesagt. Das Leben verändern: Die Beteiligten sollen nicht nur Körpergefühl und Konzentrationsfähigkeit lernen, sondern gleichzeitig auch, dass sich Engagement und Einsatz lohnen. Für die Grundschüler bedeutet das, mal still zu stehen und keinen Mucks von sich zu geben, dann wieder über die Bühne zu toben. Disziplin, Konzentration, Körperspannung. „Das ist strenger als in der Schule“, sagt Julia, die wie Michelle die dritte Klasse der Marzahner Bruno-Bettelheim-Grundschule besucht. Aber es klingt nicht aufmüpfig, im Gegenteil: „Ich könnte das hier jeden Tag machen.“
Das will auch Hauptdarsteller Thomas Matýs. Der 18-jährige Potsdamer, der in der „Faster than Light Dance Company“ trainiert, hat seine Zukunft schon fest geplant: „Ich werde Tänzer.“ Ab nächstem Jahr will er an der Kunsthochschule für Tanz in Dresden studieren, sich später zum Choreografen weiterbilden. Vielen Jugendlichen fällt es schwer, sich vor Zuschauern ungezwungen zu bewegen. Für die Beteiligten hier hat sich das verändert. „Sie sind einen langen Weg gegangen“, sagt Aletta Collins. „Sie wachsen richtig, ich sehe, wie sie sich verändern: Sie werden selbstbewusster, sicherer. Und manche jünger…“ Verschmitzt lächelnd blickt die Choreografin einigen Senioren hinterher, die beschwingt die Halle durchqueren. Einer ist 78. Strawinskys „Les Noces“ und auch die anderen beiden Stücke des Projekts, Edgar Varèses „Ionisation“ und Elena Kats-Chernins „Purple Silence“: Das ist keine leichte Kost. Weder für die Kleinen noch für die Großen. „Der ungewohnte Rhythmus war schwierig“, sagt die 70-jährige Edith in der Pause. Mit ihrem Mann tanze sie sonst zwar auch, doch nur im Berliner Volkstanzkreis. „Aber je öfter wir „Les Noces“ hören, umso klarer und schöner wird es“, sagt der 61-jährige Jörg, der neben ihr sitzt. Und am meisten Spaß mache es in Gemeinschaft.
Ein Helfer kommt zu der Seniorengruppe, für letzte Korrekturen. „Brust raus, Ellenbogen hoch. Seid stolz“, sagt er. Dann geht es noch einmal von vorne los. Während die Jungen schon auf der Bühne tanzen, laufen die Älteren ein. In den Händen halten sie silberne, mit Gas gefüllte Herzluftballons. Sie gehen aufrecht, das Kinn angehoben, stolz. Ein wenig erinnert die Szene an die Fahnenträger bei Eröffnungsfeiern von Olympischen Spielen.
Später, beim Nachhausegehen, kommen sie alle noch mal an Aletta, wie jeder hier die berühmte Choreografin nennt, vorbei. Ein Mädchen schenkt ihr ein rotes Schokoladenherz, ein anderes gibt Gummibärchen. Viele fallen ihr um den Hals oder rufen fröhlich „bis morgen“. Wie bei einer großen Schwester. Oder einer Lieblingslehrerin. Aletta strahlt.
Juliane Schäuble
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