Jüdische Flüchtlinge: Mit dem Zug in die Freiheit
Vom Bahnhof Friedrichstraße entkamen 1938/39 Tausende jüdische Kinder nach England. Ein Denkmal soll bald an sie erinnern.
Diese Woche ist er die Strecke noch einmal gefahren: von Danzig mit dem Nachtzug nach Berlin-Friedrichstraße. Diesmal ist er im Schlafwagen gereist. Letztes Mal im Viehwaggon. Männer der Gestapo hatten ihn und 15 andere Kinder eingesperrt. Das war im August 1939. Frank Meisler, ein jüdischer Junge, war zehn Jahre alt.
Als der Zug morgens am Bahnhof Friedrichstraße ankam, stand Tante Adele am Gleis. „Bananen“, sagt Meisler, „sie hatte mir Bananen gekauft.“ Daran könne er sich noch gut erinnern. Und dass ihn die Tante in den Arm genommen hat. Ein paar Stunden später stieg der Junge in einen anderen Waggon, der ihn an die holländische Küste brachte. Von dort ging es mit dem Schiff nach England und mit dem Zug nach London, zur Liverpool Street Station. Das Leben des Jungen war gerettet. So wie das von 10 000 anderen Kindern auch, die die Nazis mit Kindertransporten nach England entkommen ließen.
Meisler ist heute ein kleiner, feiner Herr von 81 Jahren, der immer noch gut Deutsch spricht. Zu Hause ist er im Englischen und Hebräischen, er pendelt zwischen einer Wohnung in London und einer in Tel Aviv. In letzter Zeit war er öfter in Berlin, denn er möchte der deutschen Hauptstadt ein Geschenk machen: Er hat eine Skulptur entworfen, die an die Kindertransporte erinnern soll und die er gerne als Denkmal am Bahnhof Friedrichstraße aufstellen möchte.
Der Senat wollte das Geschenk nicht annehmen, wohl aus ästhetischen Gründen, wie es aus Senatskreisen heißt. Die Bronzeskulptur zeigt auf einer Fläche von sechs Quadratmetern eine Gruppe von sieben fast lebensgroßen Figuren, die Jungen und Mädchen aus den 30er Jahren nachempfunden sind, mit Zöpfen, Schulranzen, Schiebermütze und aufgenähtem Davidstern. Fünf Figuren in grauer Bronze blicken zur einen Seite und sollen die 1,5 Millionen Kinder symbolisieren, die in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet wurden. Zwei Kinderfiguren aus hellerer Bronze schauen in die andere Richtung und stehen für die 10 000 geretteten Mädchen und Jungen. Anders als der Senat lässt sich der Bezirk Mitte gerne beschenken und hat mit Frank Meisler auch schon einen Termin zur Aufstellung der Figurengruppe vereinbart. Am 30. November soll es so weit sein. Dann jährt sich die Abfahrt des ersten Kindertransports zum 70. Mal.
Sieh zu, dass aus dir was wird, hat ihm sein Vater beim Abschied am Zug mit auf den Weg gegeben. Er solle studieren, am besten Architektur. Drei Tage, nachdem ihr Sohn mit dem Waggon in die Freiheit gefahren war, wurden Vater und Mutter verhaftet, ins Warschauer Ghetto deportiert und später in Auschwitz ermordet. Der Junge hat sich an den Rat des Vaters gehalten. In London wurde ein eifriger Gymnasiast aus ihm und später ein Architekt. Er baute am Flughafen Heathrow mit und entwarf Häuser. Seine Leidenschaft aber galt der Kunst. Irgendwann fing er an, Skulpturen zu entwerfen. In Jerusalem erinnert eine sieben Meter hohe Skulptur an gefallene Soldaten, eine andere an Staatsgründer Ben Gurion.
„Ich arbeite oft abstrakt“, sagt er. „Das Denkmal, das an den Kindertransport erinnert, muss aber figürlich sein.“ Gerade weil jeden Tag so viele Menschen zum Bahnhof Friedrichstraße kommen, müssten sie sich mit der Skulptur identifizieren können. Sonst würden sie vorbeilaufen. Mit einem abstrakten Kunstwerk wie dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas könne man sich nicht identifizieren. „Die Menschen, die man getötet hat, waren keine Betonklötze, sondern Menschen, die Pläne hatten und Seelen. Man sollte sie nicht abstrakt darstellen.“
Vom Bahnhof Friedrichstraße in Berlin fuhren die jüdischen Kinder los. Am Bahnhof Liverpool Street Station in London kamen sie an. Dort erinnert seit zwei Jahren ebenfalls eine bronzene Skulptur von Frank Meisler an sie. Prince Charles hatte die Idee dazu. „Die jüdischen Kinder waren eine Bereicherung für England“, habe ihm der Prinz bei einem Essen gesagt. Aus den Kindern seien anständige Bürger geworden, aus etlichen Ärzte, Schriftsteller, Architekten. Ihnen wollte der Prinz ein Denkmal setzen.
Die Kinder kamen in England mit einem Koffer an. Sie wuchsen in Pflegefamilien auf. Als der zehnjährige Frank Meisler in London aus dem Zug stieg, warteten seine Großmutter und zwei Tanten auf ihn. Sie waren Mitte der 30er Jahre aus Deutschland geflohen. „Ja, ich hatte Glück und war nicht alleine“, sagt er. Und dann sei ja auch schon der Krieg gekommen mit Sirenen und Bomben, und er musste schnell Englisch lernen und hatte sowieso kaum Zeit, über sein Schicksal nachzudenken.