Bürgerliches Engagement: Mit dem Blick fürs Ganze
Bürgerplattformen kümmern sich um ihren Kiez und beschränken sich dabei nicht nur auf ein Thema – anders als Bürgerinitiativen Die Ehrenamtlichen erreichen mit ihrer Arbeit 75 000 Berliner. Vor der Wahl scheint das nicht jeden Landespolitiker zu interessieren
Es ist nicht nach Plan gelaufen für Marion Sabel, Suat Özkan und Petra Braatz. Und für alle anderen Mitglieder der drei Berliner Bürgerplattformen, die sich seit Monaten für eine ganz besondere Fragerunde engagiert haben: die größte parteiunabhängige Veranstaltung dieses Wahlkampfs, bei der am heutigen Donnerstag eigentlich Renate Künast, Harald Wolf, Frank Henkel und Klaus Wowereit zusammenkommen und sich im Neuköllner Estrel Hotel den Fragen der Mitglieder stellen sollten – vor 1200 Besuchern. Nur den FDP-Kandidaten Christoph Meyer hatte man nicht eingeladen, weil er kein Interesse am Amt des Regierenden Bürgermeisters bekundet habe. Doch nun ist die Großveranstaltung geplatzt.
Henkel, Wolf und Künast hatten bereits im Mai zugesagt. Wowereit wollte lieber wieder einmal SPD-Landeschef Michael Müller schicken. „Das vermittelt das Gefühl, dass manche Politiker nur an Veranstaltungen teilnehmen möchten, die ihre Partei organisiert hat“, sagt die Koordinatorin Susanne Sander. Eine SPD–Sprecherin teilte dagegen mit, die Absage habe Termingründe. Und auch, dass Klaus Wowereit die Plattformen schätze. Im Frühjahr hatte er einer von ihnen den „Tulpe-Preis für deutsch-türkischen Gemeinsinn“ verliehen.
Statt sich den Fragen der Bürger zu stellen, werden Renate Künast und Klaus Wowereit heute Abend im RBB zum Fernsehduell aufeinandertreffen. Die Bürgerplattformen planen nun drei kleine Veranstaltungen – heute Abend spricht Harald Wolf vor 120 Mitgliedern. Am 12. September folgt Frank Henkel, am 13. Renate Künast. Klaus Wowereit haben die Organisatoren auch wieder eingeladen – er hat jedoch erneut abgesagt.
Nun werden die einen sagen, dass im Wahlkampf eben mal ein Termin ausfallen kann. Andererseits haben die Gruppen monatelang jede Woche mehrere Stunden darauf hingearbeitet, Arbeitsteams gebildet und Fragen vorbereitet.
Zudem können die Aktivisten der Bürgerplattformen rund 75 000 Berliner Bürger erreichen. Berlinweit engagierten sich mehr als 90 Gruppen in diesen Bündnissen. „Erst mal war da eine tierische Wut spürbar“, erinnert sich Petra Braatz an den Moment, in dem klar wurde, dass die Großveranstaltung ausfällt. Interessanterweise habe sich die Stimmung während der nächsten Sitzung der Plattformen dann aber verändert. „Es war klar, dass wir nicht stehenbleiben konnten, sondern das kanalisieren mussten“, sagt die 42-Jährige. Und auch, dass sie sich nicht unterkriegen lasse.
Sich nicht unterkriegen zu lassen, gehört zu den Haupteigenschaften der Bürgerplattformen, die in Berlin seit Jahren fest verankert sind. Im Unterschied zu Bürgerinitiativen, die sich zeitlich begrenzt für oder gegen ein Thema einsetzen, haben Bürgerplattformen ihren ganzen Kiez im Blick. Sie setzen sich aus Gruppen und Vereinen zusammen, etwa Moscheegemeinden oder Schulen. Und legen gemeinsam fest, für welche Themen sie sich engagieren wollen.
Unterstützt werden sie vom Deutschen Institut für Community Organizing (DICO), das an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin angesiedelt ist. Geleitet wird es von Leo Penta. Der US-Amerikaner hat die Idee des „Community Organizing“ nach Deutschland gebracht. Sein Institut beschäftigt sich vor allem mit einer Frage: Wie sich Gemeinschaften so organisieren lassen, dass sie gut zusammenarbeiten und gemeinsam etwas erreichen können.
Die Idee hat längst in Berlin Wurzeln geschlagen: Seit 2002 aktiv ist die Plattform „Organizing Schöneweide“, die sich nun weiter vergrößern möchte. Petra Braatz engagiert sich seit Monaten in diesem Aufbaukreis. Zu den größten Erfolgen gehört die Ansiedlung der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Schöneweide – einem ehemaligen Industriegebiet, in dem heute viele Menschen arbeitslos sind.
Suat Özkan ist seit der Gründung der Plattform „Wir sind da!“ bei der Bürgerplattform Wedding/Moabit dabei. Rund 40 Gruppen mit Menschen aus mehr als 100 Nationen beschäftigen sich dort unter anderem mit der Lebensqualität im öffentlichen Raum, vor allem auf dem Leopoldplatz. Und auch mit Bildungsfragen. Inzwischen sucht die Plattform neue Themen, die dann – wie in allen Bürgerplattformen – in einem Kreis beschlossen werden, dem Vertreter aller Gruppen angehören. „In den Bürgerplattformen sind alle gleich“, sagt Özkan, der sich gemeinsam mit vielen Familienmitgliedern und Freunden engagiert. Jeder könne mitarbeiten, ohne diskriminiert zu werden. Und da es keine Hierarchien gebe, könne man auch flexible Lösungen finden.
Harald Wolf wird nach seiner Begegnung mit den Plattformen heute wohl vor allem eines in Erinnerung bleiben: deren Hartnäckigkeit. Denn wer die Gruppen einmal bei einer ihrer Sitzungen beobachten konnte, weiß, dass blumige Sätze und rhetorische Ausflüchte vor diesem Publikum keine Chance haben.
„Wir haken nach, falls die Kandidaten nicht auf unsere Fragen antworten“, sagt Marion Sabel, die in Neukölln gerade die dritte Berliner Bürgerplattform mit aufbaut. Für die 50-Jährige gibt es vor allem einen Grund, sich zu engagieren: „Wenn sich alle zusammentun, kann sich etwas ändern.“ Genau das werden die Mitglieder auch von den Spitzenpolitikern einfordern: Einen echten Dialog, der durch regelmäßige Treffen gepflegt werden soll. Für die Zusammenkünfte mit Politikern werden die Mitglieder regelmäßig geschult – damit sie den Entscheidungsträgern souverän und „auf Augenhöhe“ begegnen können. Vorausgesetzt, die Politiker kommen tatsächlich.