Nach Übergriff in Berlin-Friedrichshain: Michael Müller: "Es sind keine rechtsfreien Räume"
In Berlin gebe es keine Orte, an denen die Polizei vor der Kriminalität kapituliert habe, sagt der Regierende Bürgermeister. Der Erlebnisbericht einer 27-Jährigen zeigt ein anderes Bild.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat bestritten, dass es rechtsfreie Räume in der Stadt gebe, wo die Polizei vor der Kriminalität kapituliert habe. Gleichzeitig räumte er in den ARD-„Tagesthemen“ am Montagabend ein, an manchen Orten wie dem Kottbusser Tor sei es dringend erforderlich, die Lage zu verbessern. Die Gegend rund um den gleichnamigen U-Bahnhof gilt mit zahlreichen Diebstählen und der präsenten Rauschgift-Szene als ein Brennpunkt. Daneben gebe es noch zwei bis drei weitere Kriminalitätsschwerpunkte in der Bundeshauptstadt, sagte Müller.
"Es sind keine rechtsfreien Räume", sagte Müller weiter - ganz ähnlich wie auch wiederholt schon sein Innensenator und Koalitionspartner. Er wolle Kriminalitätsschwerpunkte "nicht kleinreden", wehrte sich aber gegen den Begriff "No-Go-Areas", in denen man um sein Leben fürchten müsse. "Das gibt es in Berlin nicht", sagte Müller.
Zugleich verwies er auf erfolgreiche Beispiele einer Mischung aus repressiver Polizei- und vorbeugender Sozialarbeit: allen voran den Campus Rütli im Norden Neuköllns. Kürzlich war es zehn Jahre her, dass der Brandbrief über unhaltbare Zustände an der Rütli-Schule vom Tagesspiegel öffentlich gemacht wurde.
Polizei war 3400 Stunden im Einsatz am Kotti
Die Kriminalität am Kottbusser Tor war erst vor zwei Wochen Thema im Innenausschuss. Innensenator Frank Henkel (CDU) sagte da, dass die Polizei ihre uniformierte und zivile Präsenz dort deutlich gesteigert habe. Der grüne Abgeordnete Benedikt Lux forderte aber mehr Polizeipräsenz. Nach Polizeiangaben gab es in den ersten elf Monaten 2015 genau 62 größere Einsätze am Kottbusser Tor, dabei waren die Beamten 3400 Stunden im Einsatz. Zu wenig, wie Lux mit Blick auf die 30.000 Einsatzstunden im Görlitzer Park sagte. Zuvor hatte die zuständige Leiterin des Polizeiabschnitts 53, Tanja Knapp, bei einer Veranstaltung mit Gewerbetreibenden mitgeteilt, dass „die Straßenkriminalität enorm zugenommen“ habe.
27-Jährige massiv bedroht
Es gibt in Berlin keine rechtsfreien Räume – den Satz hat Innensenator Frank Henkel (CDU) schon oft gesagt. Tatsächlich gibt es sie wohl doch. Der Erlebnisbericht einer 27-Jährigen, die an der Warschauer Brücke so massiv bedroht wurde, dass sie sich in einen Imbiss flüchtete, wo ihr nach ihrer Darstellung niemand half, zeigt das deutlich.
Der Tagesspiegel hatte den Bericht am Sonntag veröffentlicht. Ein Drogendealer soll sie verfolgt und bedrängt haben. Nachdem sie sich in den Imbiss an der Ecke Warschauer/Revaler Straße geflüchtet hatte, soll einer der Dealer die Tür aufgerissen und gebrüllt haben, dass man sie mit dem Messer aufschlitzen werde, sobald sie rauskomme. Das Personal habe nicht reagiert. Die Frau rief dann die Polizei.
Der Notruf kam um 2.37 - vier Minuten später sei die Polizei dagewesen
Am Montag sollten die am Einsatz beteiligten Beamten befragt werden. Am Montagmorgen konnte die Polizei nähere Angaben zu den Einsatzzeiten machen. Nach Angaben aus dem Polizeipräsidium sei der Notruf ("sexuelle Belästigung durch Unbekannten") um 2.37 Uhr eingetroffen. Um 2.38 Uhr sei der Auftrag an eine Gruppenstreife und einen Funkwagen erteilt. Um 2.41 Uhr sei die Gruppenstreife eingetroffen; um 2.44 Uhr der Funkwagen gefolgt. Um 2.51 Uhr sei der Einsatz beendet gewesen, da die Frau keine Anzeige erstatten wollte, teilte das Präsidium mit. Nach dem Gespräch mit der Frau habe es sich nur um "verbale Streitigkeiten" mit Unbekannten gehandelt.
Am Sonntag hatte das Präsidium nur den Notruf und einen Einsatz im Imbiss bestätigt, ohne Details nennen zu können. Nach Angaben der 27-Jährigen seien es vier bis fünf Polizisten gewesen, denen sie auch von der Drohung mit dem „Aufschlitzen“ berichtet habe. Die Beamten hätten aber nur gefragt, ob sie Anzeige gegen unbekannt erstatten wolle. Unklar blieb am Sonntag, wieso die Polizisten nicht von Amts wegen wegen Bedrohung tätig wurden, sondern eine Anzeige des Opfers erwarteten.
Am Sonntagvormittag wollte der Imbisswirt nicht sprechen, „keine Zeit“ und „Chef in der Türkei“, hieß es nur. Eine Telefonnummer habe der Chef nicht.
Polizeipräsenz verdreifacht
Innensenator Henkel beließ es am Sonntag bei dem Appell „den Notruf zu wählen und nicht wegzuschauen“, wenn eine Straftat beobachtet wird. Henkel sagte weiter, dass die Polizei ihre Präsenz in dem Gebiet „versechsfacht“ habe. Tatsächlich wurde die Präsenz nur verdreifacht: von 11.805 auf 36.525 Einsatzstunden. Zuletzt hatte der Imbiss im Februar Schlagzeilen gemacht, als ein Nigerianer von Unbekannten vor dem Laden erstochen wurde. Auch gestern standen mehrere Dealer am Anfang der Revaler Straße.
Heute erleben viele Anwohner den Weg vom U-Bahnhof Warschauer Straße zum Kiez an der Revaler Straße als „Spießrutenlauf“. Schon auf der Brücke mischen sich Feierwütige mit Touristen und Dealer mit Punks, die nach Geld für Drogen betteln. Anwohner sind eindeutig in der Unterzahl. Die eigentliche Schar der Drogenhändler steht um die Ecke. Im Dreieck zwischen Clubmeile, Nahverkehr und der bei Touristen so beliebten und von vielen Berlinern gehassten Simon-Dach- Straße liegt ihr perfektes Revier. Dabei erleben viele Anwohner die Dealer oft gar nicht als das größte Problem. „Gras, Weed?“ – „Nein danke.“ Manche grüßen auch nur, um zu signalisieren: Wenn du was kaufen willst, bin ich dein Mann.
Tanzende Taschendiebe
Viel unangenehmer sind für viele Anwohner die Antänzer und Taschendiebe, die sich besonders am Wochenende hier herumtreiben. Kaum, dass man sich versieht, stehen fünf bis sechs Jungs um einen herum. Einer fängt an zu tanzen, kommt immer näher, Zentimeter für Zentimeter. Er fordert den Passanten auf, mitzutanzen, Party zu machen. Die anderen stehen im Halbkreis und grölen. Zwei Sekunden genügen, um zu erkennen, dass hier niemand zum Spaß mit einem tanzt.
Die Langfinger brauchen oft nur eine Sekunde, um das Portemonnaie aus der Tasche zu ziehen. Nicht sehr filigran, sodass man es bemerkt. Aber das ist dann auch schon egal. Denn entweder wird es blitzschnell zum Nächsten und Übernächsten weitergereicht und irgendwann ist es verschwunden. Die Diebe sind immer in der Überzahl, und immer stehen noch andere um die Ecke. Man sieht sie nicht, aber man spürt es.
Seit einiger Zeit berichten Anwohner, dass auch die Dealer zunehmend aggressiver werden. Vermutlich, weil die Diebe Konkurrenz machen, die Leute vertreiben, schlechte Stimmung machen. Sie fühlen sich in die Ecke gedrängt. Und die Polizei? Die ist zwar jetzt immer häufiger da, mit mehreren Fahrzeugen und Hundertschaften, wie Anwohner bestätigen. Doch das ändere nicht viel, nach einer Stunde sind sie wieder weg, und die Dealer und Diebe wieder da. Der einzige Effekt, den Anwohner beobachten, ist der, dass die Dealer nun noch weiter in die Seitenstraßen getrieben werden, noch tiefer in die Wohngebiete.
Anlasslose Kontrollen
Das RAW-Gelände in Friedrichshain samt Umgebung (Warschauer Brücke und Revaler Straße) sind vor Jahren als „Kriminalitätsbelasteter Ort“ eingestuft worden. Damit darf die Polizei dort anlasslos kontrollieren. Es ist ein bekannter Drogenumschlagsplatz, in den vergangenen Jahren nahmen aber auch Gewalttaten wie Raub, Körperverletzung und Bedrohung zu. Im Jahr 2013 wurden nach Angaben der Polizei 553 Gewalttaten registriert, 2014 dann 661 und 2015 schon 732 Gewalttaten. Die Zahl der Eigentumsdelikte hat sich in den zwei Jahren verdoppelt: von 1186 auf 2270.
Die Polizei hat im Jahr 2015 dort 36.500 Einsatzstunden geleistet, also pro Tag genau 100. Noch weiter heruntergerechnet: Durchschnittlich waren immer vier Polizisten dort im Einsatz. Im Jahr zuvor waren es fast 12.000 Einsatzstunden, also etwa 30 am Tag. 2015 hat die Polizei in diesem Gebiet 1614 Anzeigen geschrieben, etwa 75 Prozent davon wegen Drogenhandels.