Ukrainischer Botschafter im Adlon: Melnyk rüffelt Politiker fürs Fernbleiben vom Bundespresseball
Eine opulente Party während des Krieges? Für den Bundespresseball in Berlin hagelte es Absagen. 1800 Gäste kamen trotzdem – auch der ukrainische Botschafter.
Was für ein ungewohnter Anblick nach mehr als zwei Jahren Pandemie. 1800 festlich gekleidete Menschen ohne Masken auf engstem Raum beieinander, lachend, posierend, essend, trinkend, Hände schüttelnd.
An Inzidenzen denkt man besser nicht beim Bundespresseball im Hotel Adlon, auch wenn alle geimpft und frisch getestet sind. An den Krieg muss man denken, schließlich wurde der wegen der Pandemie zweimal verschobene Ball angesichts der neuen Weltlage umgewandelt in eine Solidaritätsaktion für die Ukraine, für die Pressefreiheit.
Als Ehrengäste sind der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk und seine Frau Svitlana sowie die Frau des Bürgermeisters von Kiew, die Sängerin Natalia Klitschko, gekommen. Dem Botschafter ist es wichtig, die Namen aller Kriegsreporter zu nennen, die derzeit in seinem Heimatland im Einsatz sind. Er bedauert es ausdrücklich, „dass viele Politiker durch Abwesenheit glänzen“. Kritischen Fragen würden sie dadurch nicht entgehen.
Eindringlich wirbt er um mehr Unterstützung für sein Land, dankt immer wieder für die ausführliche Berichterstattung über die Gräueltaten. Und bittet die Gäste im voll gefüllten Ballsaal um eine Schweigeminute.
Auch geht er auf die viel diskutierte Frage ein, ob es angemessen sei, jetzt einen Ball zu feiern: „Gerade in diesen dunkelsten Zeiten brauchen wir das Licht von Kunst und Kultur.“ Am Ende seines Grußwortes gibt es eine stehende Ovation.
Solidarität brauche ein offenes und ein öffentliches Gesicht, hatte zuvor Mathis Feldhoff, der Vorsitzende der Bundespressekonferenz, gesagt: „Heute sind wir alle dieses Gesicht.“
Zuletzt zog auch Verteidigungsministerin Lambrecht zurück
Die wohl gemeinte Umwidmung in das neue Format eines politischen Tanzvergnügens hatte nicht verhindern können, dass es Absagen hagelte bis kurz vor dem Tag. Am Ende zog auch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ihre Zusage zurück.
Das Gefühl, es sei nicht die richtige Zeit für eine rauschende Ballnacht schien vor allem unter Spitzenpolitikern hochansteckend zu sein. Da halfen auch nicht die vielen in den Ball eingebauten wohltätigen Aktionen, zum Beispiel für geflüchtete Frauen aus Odessa und ukrainische Künstler, die gerade jetzt jede Auftrittsmöglichkeit gut gebrauchen können. Zum Glück für die Veranstalter gab es eine Warteliste und ausreichend Nachrücker.
Am Rande des roten Teppichs blitzt ganz kurz die Erinnerung auf an einen der letzten Bälle vor der Pandemie, als man hier süffisant darüber lästerte, was wohl passiert, wenn die aktuelle Frau vom Ex-Kanzler Schröder mit der Vorgängerin zusammentrifft. Das muss Lichtjahre her sein.
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Hätte es eine Alternative zum traditionellen Ball-Format gegeben? Einer der prominenten Beinahe-Besucher, die spontan noch abgesagt haben, so ist zu hören, hätte die Idee einer Art Sicherheitskonferenz naheliegend gefunden – mit Impulspapieren verschiedener Gruppen, Vorträgen im Ballsaal und einem gemeinsamen „Manifest von Berlin“ über Wege zum Frieden und einer dauerhaften Friedensordnung als Abschluss. Das hätte sich kurzfristig aber wohl kaum organisieren lassen.
Immerhin Claudia Roth, diesmal in ihrer Funktion als Kulturstaatsministerin und zuständig eben auch für die Medien, ist gekommen. Sie sieht in dem Ball „ein Signal für ein Grundnahrungsmittel unserer Demokratie: die freie Presse“.
Franziska Giffey ist zum ersten Mal in ihrer Rolle als Regierende Bürgermeisterin Berlins dabei. Wolfgang Kubicki trägt eine blaugelbe Schleife zum Smokinghemd. Für Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist der „sehr politische Abend“ ein Fest für die Demokratie.
Saibling in Hanfsud – „Noblesse oblige“ im Adlon
Egal, wie die Zeiten sind, das Adlon funktioniert immer noch unter dem Motto „Noblesse oblige“, und das bedeutet auch: Funktionieren auf hohem Niveau. Kalbsbäckchen mit knusprigen Kartoffelspagetti, Lammnüsschen mit feuriger Paprikacreme, Saibling in Hanfsud, kulinarisch gibt es jedenfalls keine Schatten zu beklagen. Die Erdbeeren mit verschiedenen Glasuren sind sicher hitverdächtig, Chili-Brownie und Algen-Eis können mithalten.
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Und mit dem Presseball-Cocktail, einem Belsazar Rosé Tonic mit reichlich rosigem Vermouth, können die Gäste sich nicht nur gut in Stimmung bringen, sondern auch eventuell aufflackernde Gewissensbisse betäuben, jedenfalls effektiver als mit dem alkoholfreien Blumenkohl-Joghurt-Smoothie. Allzu viel Zeit auf der Tanzfläche mögen viele sowieso nicht verschwenden. Der Redebedarf erweist sich, wie von den Mitgliedern der Bundespressekonferenz prognostiziert, als riesengroß.
Der Preis der Bundespressekonferenz 2021wird nachgereicht an das Berliner Korrespondentenbüro der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“. Die Verleihung gleich zu Beginn rückt wegen der Solidaritätsbekundungen aber eher in den Hintergrund.
Im Vordergrund steht die Spendenaktion für die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ zugunsten von ukrainischen Journalisten und russischen Reportern im Exil. Deren Vorstand, Michael Rediske, spricht unmittelbar vor dem Eröffnungstanz. Auch die vielen ernsthaften Elemente und deutlich längeren Reden unterstreichen, dass es sich hier nicht um ein reines Vergnügen oder gar um Ball-Business as usual handelte.