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Nähwerkstatt statt Schule. In indischen Dörfern müssen auch die Kleinsten etwas zum Familieneinkommen beitragen – sie fertigen zum Beispiel Fußbälle an.
© Jörg Böthling / Brot für die Welt

2019: Jahr gegen Kinderarbeit: „Mein Ziel ist eine Globalisierung des Mitgefühls“

Kailash Satyarthi kämpft gegen Kinderarbeit in Indien. In Berlin appelliert er auch an die Verantwortung deutscher Konsumenten.

Herr Satyarthi, seit Anfang der 80er Jahre setzen Sie sich gegen die Ausbeutung von Kindern ein. Wie steht es aktuell um die Kinderrechte auf der Welt?

Als ich anfing, in Indien öffentlich über Kinderarbeit zu sprechen, lachten mich die Menschen aus. Dass ein Elfjähriger arbeiten und Geld für seine Familie verdienen muss, war normal. Diese Denkweise hat sich über die Jahre gewandelt. Mittlerweile verstehen die Menschen: es ist ein furchtbares Verbrechen, kleine Kinder teilweise 15 Stunden am Tag arbeiten zu lassen. Seit dem Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention im Jahre 1990 ist die Zahl der arbeitenden Kinder von weltweit 260 Millionen auf 152 Millionen gesunken. Mein ganzes Leben werde ich dafür kämpfen, diese Zahl auf null zu verringern.

Was ist der Grund für den weltweiten Rückgang?
Der Grund ist ein neues Bewusstsein. Dafür kämpfen wir schon sehr lange und jeden Tag aufs Neue. 1998 haben wir einen „Marsch gegen Kinderarbeit“ veranstaltet, der uns durch 103 Länder führte. Mit tausenden von Menschen im Rücken konnten wir enormen Druck auf die Politik ausüben. Es war wichtig, endlich globale Forderungen zu formulieren, weil es bis zu diesem Zeitpunkt keine internationalen Gesetze gegen Kinderarbeit gab. Der Marsch hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ein Übereinkommen zur Beseitigung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit verabschiedete.

Bildung ist der wichtigste Aspekt bei der langfristigen Bekämpfung von Armut. Warum fällt es vielen Ländern so schwer, flächendeckende Bildung zu gewährleisten?
Viele arme Länder in Afrika, Asien und Südamerika haben schlicht nicht ausreichend Ressourcen, um in qualitative Bildung zu investieren. Ich glaube, die meisten dieser Länder werden es ohne fremde Hilfe auch nicht schaffen. Die westlichen Staaten sind da in der Pflicht, immerhin profitieren sie von den günstigen Produktionskosten.

Haben Sie den Eindruck, die Unterstützung wohlhabender Staaten ist ausreichend?
Nein, im Gegenteil, wir erleben gerade eine negative Dynamik in die andere Richtung. In unterschiedlichsten Regionen der Welt erstarkt eine Rückgesinnung auf rein nationale Interessen. Immer weniger Menschen sind dazu bereit, andere aufzunehmen, zu helfen und zu investieren. Meiner Meinung nach bräuchte es pro Jahr 22 Milliarden Dollar um Bildung in allen Teilen der Welt zu gewährleisten. Das klingt viel, ist aber nichts im Vergleich zu den weltweiten Militärausgaben, wo diese Summe allenfalls für ein paar Tage ausreichen würde. Das ist doch Irrsinn.

Und was können die Verbraucher tun? Man bekommt den Eindruck, dass das Bewusstsein, von dem Sie sprechen, sehr weit weg ist. Nach wie vor kaufen viele Menschen bei Modeketten wie H&M oder Primark ein – Firmen, die sich zwar offiziell gegen Kinderarbeit positionieren, in der Vergangenheit aber immer wieder damit in Verbindung gebracht wurden.
Wir Verbraucher müssen uns darüber im Klaren sein, welche Macht wir auf dem freien Markt haben. Die Nachfrage regelt nicht nur den Preis, sondern auch die Produktion. Wir müssen öfter danach fragen, wo ein Produkt herkommt und wie es entstanden ist. Wann immer ich in Deutschland war, bin ich in Einrichtungs- oder Bekleidungsläden gegangen und habe die Verkäufer gefragt: „Wie können sie mir garantieren, dass dieses Produkt nicht mit Hilfe von Kinderarbeit hergestellt worden ist?“ Sie glauben nicht, wie viel da plötzlich telefoniert wurde (lacht).

Zusammen mit dem Hilfswerk „Brot für die Welt“ haben Sie die Initiative „100 Million“ ins Leben gerufen. Was wollen Sie damit erreichen?

Auf der Welt gibt es Hunderte Millionen Kinder, die Opfer von Gewalt sind und unter schlimmsten Bedingungen arbeiten müssen. Demgegenüber stehen Hunderte Millionen Kinder und Jugendliche, die ein gutes Leben führen und voll von Möglichkeiten sind. Die warten nur darauf, etwas verändern zu können. Ich möchte diesen Kindern zeigen, wie sie den Helden in sich herausholen können. Mein Ziel ist eine neue Kultur der Weltbürgerschaft, eine Globalisierung des Mitgefühls. Wir wollen dazu anregen, sich kritisch zu hinterfragen, sich zu engagieren und zu intervenieren. Wir müssen unbedingt ein breiteres Bewusstsein schaffen. Nur so kann die Ausbeutung von Kindern beendet werden.

Im nordindischen Uttar Pradesh nähen Kinder Textilien wie Büstenhalter, die auch in Europa verkauft werden.
Im nordindischen Uttar Pradesh nähen Kinder Textilien wie Büstenhalter, die auch in Europa verkauft werden.
© Jörg Böthling / Brot für die Welt

Im Rahmen dieser Kampagne ist auch die Dokumentation „The Price of Free“ auf YouTube erschienen, die man dort gratis ansehen kann. Wie kam es zu dem Film?
Der Produzent des Films, Oscar-Gewinner Davis Guggenheim war anwesend, als ich 2014 in Stockholm den Friedensnobelpreis erhielt. Er war sehr interessiert an meiner Arbeit und fragte mich schließlich, ob er einen Film darüber machen könnte. Während das Team um den Regisseur Derek Doneen bei uns in Indien war, ereignete sich auch die dramatische Suche nach dem kleinen Jungen Sonu, die in dem Film erzählt wird. Er ist seiner Familie von Menschenhändlern entrissen worden und musste unter schlimmsten Bedingungen Billigschmuck in einer Fabrik in Dehli herstellen.

Welche Hoffnungen verbinden Sie mit dem Film?
Ich hoffe, dass er das Bewusstsein aller Zuschauer erweitern und sie dazu bringen wird, über das Produkt nachzudenken, das sie gerade kaufen wollen. Warum ist dieses Kleidungsstück so günstig? Wurde die Herstellung womöglich mit der Freiheit von kleinen Kindern bezahlt?

Der Friedensnobelpreis hat Sie zu einer weltweit bekannten Person gemacht, der nicht nur berühmte Filmproduzenten zuhören. Erst kürzlich haben Sie sich mit dem Papst, später auch mit Angela Merkel getroffen. Worum ging es in den Gesprächen?
Wir brauchen eine UN-Konvention zur Bekämpfung von Kinderpornografie im Internet. Dafür werbe ich bei vielen Entscheidern auf der ganzen Welt. Der sexuelle Missbrauch von Kindern zieht Begleiterscheinungen wie Menschenhandel, Entführung und Sklaverei nach sich. Bisher gibt es kein internationales Recht, das die Verbreitung im Internet verbietet. Der Papst hat sogleich seine Unterstützung zugesagt, Merkel reagierte ebenfalls positiv.

Gibt es zum Abschluss noch etwas, das Sie uns allen mit auf den Weg geben wollen?
Es ist wichtig, zu erkennen, dass kein Problem auf der Welt isoliert betrachtet werden kann. Klimawandel, Armut, Ausbeutung, Krieg und Hunger – das alles hängt miteinander zusammen. Wir müssen die Problemlöser werden. Wir müssen den großen Firmen und unseren Regierungen auf die Nerven gehen. Nur so können wir sicher gehen, dass die Probleme dieser Welt nicht in Vergessenheit geraten.

Das Interview führte Niklas Liebetrau.

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