Berlin: Mehr Gentrifizierung wagen!
Als wäre früher alles besser gewesen: Veränderung muss nichts Schlechtes sein. Es ist gut, dass man den Kinderwagen bald wieder über die Kastanienallee schieben kann, ohne ständig in Schlaglöchern hängen zu bleiben.
Den Großteil meines Lebens habe ich an der Grenze zwischen Mitte und Prenzlauer Berg verbracht. 1983 zog meine Familie von Weißensee an den Zionskirchplatz, ich war damals keine sechs Jahre alt. Im Rückblick kann ich es offen zugeben: Die neue Wohnung, das neue Viertel waren eine Enttäuschung für mich. Meine Eltern hatten zuvor einen Plattenbau in Marzahn besichtigt, und dieser Plattenbau erschien mir als der Inbegriff modernen Wohnens. Es gab einen Fahrstuhl und auf jeder Etage Müllschlucker, die Küche hatte eine Durchreiche, und wenn man aus dem Fenster blickte, schien der Himmel zum Greifen nah, während Menschen und Autos auf Ameisengröße schrumpften.
Im Gegensatz zu mir hatten meine Eltern für Fahrstühle und Ameisenmenschen nicht viel übrig. Sie bevorzugten einen Altbau, dessen graue Fassade bröckeliger war als das schlimmste Make-up einer Kosmetikfachverkäuferin kurz vor Feierabend. Von unserem Wohnzimmerfenster aus konnte man nicht nach dem Himmel greifen, sondern blickte geradewegs auf die Mauer. Die Gegend kam mir merkwürdig leblos, fast komatös vor: Die Wohnblocks waren heruntergekommen, die Gehwege holprig, die Straßen voller lieblos ausgebesserter Schlaglöcher. In der Nachbarschaft schienen nur Rentner zu leben, so wie in unserem Haus, wo es außer meinem Bruder und mir keine Kinder gab, es sei denn, sie kamen Weihnachten vorbei, um ihre Groß- und Urgroßeltern zu besuchen. Warum meine Eltern ausgerechnet hierher ziehen mussten, wollte mir nicht einleuchten.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit den Dingen zu arrangieren. Es dauerte drei Jahre, und meine Eltern zogen erneut um, aus beruflichen Gründen, diesmal nach Moskau. Vier Jahre später, im Frühjahr 1990, kehrten wir zurück nach Berlin. Zurück an den Zionskirchplatz. Zurück in unsere alte Wohnung, die meine Eltern in der Zwischenzeit untervermietet hatten. Das Land, in dem ich den Großteil meiner Kindheit verbracht hatte, gab es nicht mehr, es war im Umbruch und würde bald eben so verschwinden wie die Ost-Mark. Nur die Straßenzüge waren immer noch grau und marode. Für mich stand fest, dass ich nach meinem Abitur wegziehen würde. Wohin genau, wusste ich zwar noch nicht, aber ich hatte eine Ahnung: Ich wollte dort wohnen, wo das Leben bunt und sexy war.
Bis ich mein Abiturzeugnis in den Händen hielt, vergingen sechs Jahre, und in dieser Zeit kamen Dinge in Bewegung, die vorher starr und unabänderlich schienen. Plötzlich sah man auf den Straßen nicht mehr nur alte Menschen. Plötzlich wurden die ersten Häuser saniert. Und plötzlich eröffneten in der Nachbarschaft Bars und Clubs. Für mich gab es keinen Grund mehr, in eine andere Ecke der Stadt zu ziehen. Dafür gab es plötzlich tausende Gründe, genau hier zu bleiben, die Veränderungen zu beobachten, zu sehen, wie das Viertel zu neuem Leben erwacht. Wie es schöner wird, spannender, bunter.
Bis heute kann ich nichts Schlechtes daran finden, dass es immer neue Menschen in den Kiez zieht. Dass Häuser saniert werden, neue Läden eröffnet, Baulücken geschlossen werden. Dass man bald wieder den Kinderwagen über den sanierten Gehweg der Kastanienallee schieben kann, ohne ständig in Schlaglöchern hängen zu bleiben.
Die, die ständig "Gegen Gentrifizierung" rufen, sind die Ur-Gentrifizierer. Warum, erfahren Sie auf der nächsten Seite.
Natürlich kann man es bedauern, dass dort, wo auf der Kastanienallee mal ein Spätkauf mit dem charmantem Namen „Koof im Kiez“ war, sich nun ein banales Modeschnickschnackirgendwasgeschäft befindet – in nostalgischen Momenten macht mich das auch traurig. Aber ist diese Veränderung wirklich schlimm? Gehört das nicht auch dazu? Viel trauriger, ja schlimmer sind jedenfalls die Klischees, die hier seit Jahren gepflegt werden.
Angeblich wird ja hier in Prenzlauer Berg alles gleichgemacht, genormt, nach den Vorstellungen und Wünschen wohlhabender Zuwanderer. Aber von dieser angeblichen Homogenität sehe ich: nichts. Da schlurft der Punk neben dem Geschäftsmann die Oderberger Straße hinunter, da spaziert die Mutter neben dem Rentner über den Helmholtzplatz, und in den Schönhauser-Allee-Arcaden sitzt der neu Zugezogene neben dem Einheimischen – oder eben dem, der sich nach ein paar Monaten in Berlin schon für einen hält und sich entsprechend benimmt. Das war vor zwanzig Jahren anders. Wer weiß, wie es in zehn Jahren ist.
Schrecklich ist heute diese beinahe militante Verteidigung der Verhältnisse von Anfang der Neunziger, geführt mit dem Schlachtruf „Gegen Gentrifizierung!“, immer öfter getragen von Hass. Der trifft mal einen guten, aber teuren Kaffee, mal einen schicken Kinderwagen: willkürlich, egoistisch, dämlich, gefährlich. Ist den Besitzstandswahrern eigentlich klar, dass sie selbst Gentrifizierer sind, Ur-Gentrifizierer gewissermaßen? Dass sie sich benehmen wie jene, gegen die sie sich abgrenzen wollen: die frisch Zugereisten und die Altbewohner?
Schwaben-Bashing ist hier inzwischen ein Breitensport, wer nicht mitmacht, wird mindestens schräg angesehen. Wer die Toleranz pflegt, für die Berlin angeblich steht, wer nicht einstimmt in die Klage über Zuzügler aus dem reichen Süddeutschland oder über reiche Zuzügler aus dem Ausland, über Verdrängung, Wandel und steigende Mieten, der steht in vielen Kreisen ganz schnell im gesellschaftlichen Abseits.
Gentrifizierung ist nicht nur schön. Es gibt Menschen, die darunter leiden. Wenn ältere Mitbürger nach Jahrzehnten ihren Kiez verlassen müssen, weil sie sich auf einmal die Miete nicht leisten können; wenn ein Ort sein Herz, seinen Charme verliert. Aber wer bestimmt, was das ist? Kann es nicht auch sein, dass der Wandel dazu führt, dass das ursprüngliche Herz, der ursprüngliche Charme eines Ortes wiederhergestellt wird? Und wissen diejenigen, die sich heute über Gentrifizierung erregen, wie es in Prenzlauer Berg vor zwanzig, dreißig Jahren aussah?
Viele von ihnen sind später gekommen, als es schon langsam besser wurde, schöner, sauberer. Dann aber beschlossen sie, dass es so bleiben müsse, genau so, wie sie es vorgefunden hatten. Sie wollen bestimmen, wie der Ort, an dem sie leben, auszusehen hat, welche Menschen dort zu wohnen haben und welche nicht, welcher Dialekt oder Akzent zu sprechen ist, wie viel Geld der Nachbar höchstens zu verdienen hat. Mit solchen Leuten will ich nichts zu tun haben.