Zeit für Geschichten: Märchenzauber in der Großstadt
Geschichten sind das Richtige für den Herbst. Die Märchentage verschaffen ihnen Gehör, die Märchenhütte bringt sie auf die Bühne.
Drei Worte bestimmen die Wintermonate von Roger Jahnke: Es war einmal. Einmal ist er die Stiefmutter von Aschenbrödel, ein andermal der Teufel mit den drei goldenen Haaren. Nicht mehr lange, und der Schauspieler und Mitbegründer der Märchenhütte schlüpft wieder in die vertrauten Rollen – dort oben auf dem Bunkerdach im Monbijoupark, in den zwei Holzhütten aus Polen, bei Kerzenschein und knisterndem Ofenfeuer.
Während ein Mitarbeiter draußen Holz sägt, sitzt Roger Jahnke an einem stürmischen Novembertag in der Wilhelmhütte und erzählt von Rügen, der Insel, auf der er groß geworden ist, von der Küste und der See, von Oma Ilse, die Plattdeutsch sprach und davon, wie er mit seinem Großvater angeln ging. Der Ort seiner Kindheit ist ein Grund, warum die Geschichte vom Fischer und seiner Frau eines seiner Lieblingsmärchen ist. Ein anderer ist der Charakter des Fischers, der seiner Frau, der Ilsebill, jeden Wunsch erfüllt. Ganz gleich, wie sehr sie ihn auch scheucht. „Ich liebe einfach die Ruhe“, sagt Jahnke. „Sturm bläst einen doch bloß weg.“ Der dritte Grund ist Carsta Zimmermann, seine Bühnenpartnerin im Stück; sie kennt er seit 20 Jahren.
Aschenbrödel, mag er übrigens auch sehr gern. Im Märchen spielt er, ohne das Kostüm zu wechseln, die böse Stiefmutter, die beiden Schwestern und den Prinzen. Das macht ihm wahnsinnigen Spaß. Und ihm gefallen die Bosheiten im Stück. Laut dem Märchenforscher Hans-Jörg Uther gehören Gemeinheiten und Konflikte – bei Kindern wie Erwachsenen – in den Erzählungen dazu. „Märchen sind so beliebt, weil Außenseiter darin aufsteigen, weil jeder eine zweite Chance bekommt, und weil am Ende die Gerechtigkeit siegt“, sagt er. Die Dichtung in den Märchen sei positiv, das Weltbild optimistisch. So auch bei dem verwaisten Aschenbrödel, das am Ende den Prinzen heiratet.
Märchen als Erinnerungsanker
Insgesamt zeigt das Ensemble der Märchenhütte in dieser Saison 20 Klassiker, die sich pro Vorstellung 99 Kinder und Erwachsene anschauen können. Bis Ende Februar. Jeden Tag. In den beiden Grimm’schen Holzhütten am Bodemuseum brennt dabei ein wärmendes Feuer im Ofen, es duftet nach Glühwein und Kuchen. Wie Zauber aus einer vergangenen Zeit. Man verzichtet auf pompöses Bühnenbild, weil die Räume allein schon Kulisse sind. Wie stark das wirken kann, beschreibt der Forscher Hans-Jörg Uther: „Märchen sind bei vielen Menschen so sehr im Gehirn verankert, dass sich selbst Demenzkranke an einzelne Verse wieder erinnern können.“ Zum Beispiel in der Agaplesion-Bethanien-Diakonie in Steglitz.
Einmal in der Woche sitzen dort an Demenz erkrankte Frauen und Männer in einem Wohnzimmer und hören der Märchenerzählerin Marlies Ludwig zu. Sie arbeitet für das Projekt „Es war einmal... Märchen und Demenz“, das von der Senatsverwaltung für Gesundheit gefördert und nach einer Pilotphase im letzten Jahr bundesweit durchgeführt wird. „Natürlich können wir die Krankheit nicht aufhalten“, sagt die Direktorin des Berliner Märchenlandes, Silke Fischer. „Aber wir merken, dass die Patienten beim Zuhören ruhiger werden und in ihren Köpfen etwas aktiviert wird.“ Wie bei so vielen Menschen waren Märchen eine ihrer ersten Berührungen mit Literatur und bleiben daher ein Leben lang.
An diesem Nachmittag trägt die Märchenerzählerin die Geschichte vom Dornröschen vor, das Publikum lauscht gespannt. Eine ältere Frau nickt immer wieder, ihre Sitznachbarin schließt die Augen – bis zur Szene, als der Prinz die Treppen des Turms hinaufeilt und dort die schlafende Prinzessin findet. „Ja, und dann küsst er sie“, vervollständigt die eben noch Dösende den Satz – und singt auch gleich mit etwas Hilfe das Lied zum Märchen. „Wunderbar, wunderbar“, sagt ihre Nachbarin, „das war schön.“ Bei der Geschichte vom „Hans im Glück“ schaut sie am Ende etwas skeptisch. Möglich sei die Geschichte im Märchen zwar schon, logisch aber nicht...
Geschichten für die Winterzeit
Solche Reaktionen kennt auch Roger Jahnke. Allerdings von Kindern. „Da ist es schon anspruchsvoll, ganz korrekt wie ein Hase zu hoppeln, ohne dass im Publikum ein freches Mädchen mit Lolli im Mund protestiert“, sagt er augenzwinkernd. Erwachsene schauten immer gleich hinter die einfach gestrickten Märchen mit den klaren Gegensätzen zwischen Gut und Böse, Held und Antiheld. Sie verglichen die Figuren mit sich selbst, analysierten die Aussage des Märchens, dächten an Erlebnisse von früher. Ganz anders die Kinder: Die hörten und schauten einfach nur zu, ganz ohne Interpretationen. Warum Märchen, egal in welchem Alter, gerade in der Adventszeit so beliebt sind, versucht der Wissenschaftler Hans-Jörg Uther zu erklären. „Vielleicht entwickelte sich die besondere Form des Weihnachtsmärchens im 19. Jahrhundert deshalb, weil in der Familie dann die Zeit da war, vor dem Kamin zu sitzen und Geschichten zu lesen. Im Sommer musste ja auf dem Feld gearbeitet werden.“
Bis also die Märchenhütten in Mitte am ersten Advent ihre Pforten öffnen, wird Roger Jahnke mit seinem Team putzen, werkeln und proben. Nur den Fischer, der am Meer steht und „Manntje, Manntje, Timpe Te“ ruft, muss er nicht mehr einstudieren. Die Rolle beherrscht er perfekt. Seine Rolle, sein Märchen.
Marie Rövekamp
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