Konzept für Berlin: Magistralen und Mietskasernen: 150 Jahre Bebauungsplan
Am 2. August 1862 trat der „Bebauungsplan von den Umgebungen Berlins“ in Kraft. Bis heute prägt er zwar das Gesicht der Stadt. Doch die reformerischen Ideen des Konzepts scheiterten damals an den wirtschaftlichen Realitäten.
Im Sommer 1862 geriet der Feldwächter von Alt-Schöneberg mit Landvermessern aneinander, die auf den Äckern Grenzsteine setzten, ohne Rücksicht auf das im Korn stehende Getreide. Die wütenden Bauern ahnten nicht, dass sie einer großen Idee im Weg standen. Die stürmisch wachsende Industriemetropole Berlin, die aus allen Nähten platzte, wurde neu vermessen, um auf Befehl des preußischen Königs Wilhelm I. einen Bebauungsplan für eine Millionenstadt aufzustellen. Große Teile von Charlottenburg, Schöneberg, Rixdorf, Treptow und Lichtenberg wurden gleich mit verplant, ohne die betroffenen Gemeinden vorher zu fragen. Aber die Planungskosten mussten sie später mitbezahlen.
Der junge Ingenieur James Hobrecht, der die Planungskommission leitete, konnte dafür nichts. Er arbeitete im Auftrag des königlichen Polizeipräsidiums, das für die Stadtplanung traditionell zuständig war. Besonders erstaunlich aus heutiger Sicht: Der „Bebauungsplan von den Umgebungen Berlins“ brauchte nur drei Jahre Vorarbeit, um am 2. August 1862 in Kraft zu treten: Durch „Allerhöchste Cabinets Ordre“, vor 150 Jahren. Immer noch prägt der Hobrecht-Plan, der ein Areal von 7000 Hektar umfasste (so groß wie das Stadtgebiet innerhalb des S-Bahnrings), das Gesicht Berlins.
Hobrecht entwarf ein kühnes Konzept. Mit Magistralen, die sternförmig zum historischen Stadtzentrum führten und durch ringförmig angelegte Straßen miteinander verbunden wurden, kam er auch den Wünschen des Königs entgegen, der Paris vor Augen hatte – mit prächtigen Boulevards und Plätzen. Alte Chausseen, die vom zunehmend besiedelten Umland in die Stadt hineinführten, wurden einbezogen. Etwa die Potsdamer Straße, die Schönhauser Allee oder die Müllerstraße. Der Kurfürstendamm begrenzte das Charlottenburger Siedlungsgebiet nach Süden, doch im Bebauungsplan spielte der sandige Feldweg entlang von Äckern, Spargelfeldern und Windmühlen nur eine Nebenrolle.
Das historische Kreuzberg. Eine Bildergalerie:
Das neue Plangebiet wurde in 14 Abteilungen gegliedert und das Straßennetz bildete ein Raster für große Karrees, mit einer Seitenlänge bis zu 300 Metern. Das war der Ausgangspunkt für die typische Berliner Blockbebauung und viele neue Stadtquartiere. Wer heute rund um den Boxhagener Platz spazieren geht, mit seiner dichten, verwinkelten Bebauung und der Mischung aus Wohnen, Park und kleinem Gewerbe, der blickt tief in die Planungsgeschichte Berlins.
James Hobrecht war ein Idealist, der den sozialen Ausgleich und die Volksgesundheit fördern wollte. Ihm schwebte vor, „dass die Gesellschaftsklassen durcheinander wohnen“. Er wollte eine Mischung der Milieus. Im Vorderhaus Handel und Gastronomie, darüber Hausbesitzer und Verwalter, darüber Beamte und Angestellte. In den Hinterhäusern sollten Arbeiter und Rentner billig wohnen und in den Betrieben arbeiten, die mitten in den Siedlungsblöcken eingeplant wurden. Dazwischen genügend Platz für Grünanlagen und Gärten, Promenaden und Spielplätze für die Kinder.
Die oft gerühmte „Berliner Mischung“ war erst mal keine gute Sache
Aber die guten Absichten scheiterten großenteils an den Realitäten. Die preußische Residenzstadt Berlin schickte sich an, zu einer gigantischen Industriemetropole zu werden, zur dichtestbesiedelten Stadt der Welt. Von 1850 bis 1871 verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf 800 000, als Hobrecht 1902 starb, waren es schon zwei Millionen Menschen. Der Gründerzeit-Boom verlangte nach hunderttausenden Arbeitskräften, die untergebracht werden mussten. Wer zu jener Zeit mit Grundstücken spekulierte, wurde reich. Große Terraingesellschaften und Bauunternehmen teilten sich die Beute. Vor allem die Agrarflächen, die es am Stadtrand und in den Vororten noch reichlich gab, wurden mit der Umwandlung in parzelliertes Bauland zur Goldgrube. Grundstücke, die 1860 für 100 000 Mark zu haben waren, kosteten 30 Jahre später 50 Millionen Mark.
Die Planungshoheit des Staates war das eine. Die private Baufreiheit das andere. Und so wurden die großzügigen Siedlungsblöcke, die der Hobrecht-Plan vorsah, nicht nur am Rande bebaut, sondern tief gestaffelt bis in den achten Hinterhof. Sechs Etagen hoch und ein Kellergeschoss. Die berüchtigten Berliner Mietskasernen entstanden. Dunkel, feucht und überbelegt. Zwar wurde die Traufhöhe auf 22 Meter beschränkt, um zu vermeiden, dass bei einem Brand einstürzende Fassaden das gegenüberliegende Haus trafen. Aber die Innenhöfe mussten nach den baupolizeilichen Vorschriften nicht breiter als 5,34 Meter sein. Das reichte aus, um eine Feuerspritze zu wenden oder eine Leiter aufzustellen. Hobrecht beschwerte sich erfolglos über dieses Elend: „Das Vierfache (des Hofraums) wäre kaum genug, wenn wir für unsere Hinterzimmer noch Sonne, Licht und Luft in genügender Quantität und Güte behalten wollen.“
Auch die oft gerühmte „Berliner Mischung“ aus Wohnen und Gewerbe war erst mal keine gute Sache. Die Fabriken mitten in den Wohnblöcken verpesteten die Luft und machten Krach. Sie wurden dort auch nicht gebaut, um den Arbeitern den Weg zur Arbeit zu verkürzen, sondern weil die Grundstücke in den Hinterhöfen relativ preiswert waren. Auch die begrünten Plätze in jedem neuen Stadtviertel blieben oft ein schöner Plan. So umfasst der Wittenbergplatz nur ein Drittel der ursprünglich gedachten Fläche. Andere Plätze, etwa an der Rügener Straße in Wedding, wurden gar nicht realisiert. Und weil Hobrecht den Flächenbedarf des innerstädtischen Eisenbahnverkehrs unterschätzte, wurde der Bebauungsplan mehrfach korrigiert.
Trotzdem prägt sein Generalplan, der eigentlich nur Baufluchten und Straßen darstellte, bis heute die städtebaulichen Strukturen Berlins: Das Netz der Hauptverkehrsstraßen, die Blockbebauung, reizvolle Kieze und die Mischung von Wohnen und Gewerbe. Erst 1919 wurde Hobrechts Bebauungsplan aufgehoben. Er steht am Anfang einer Flächennutzungsplanung für Berlin, die es seit 1994 wieder für die gesamte Stadt gibt.
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