Mauerfall: "Macht den Schlagbaum auf!"
Harald Jäger war der Mann, der die Grenze an der Bornholmer Straße öffnete. Heute fühlt er sich als Verlierer der Wende. In einem Buch schildert er seine Erlebnisse der Wendejahre.
9. November 1989, gegen 23 Uhr am Grenzübergang Bornholmer Straße. Oberstleutnant Harald Jäger spürt das heftige Klopfen seiner Halsschlagader, während er zum Schlagbaum schreitet. Der kurze Weg erscheint ihm plötzlich endlos. Als er ankommt, schwillt der Chor der Zehntausenden an: „Tor auf! Tor auf!“ Was soll er tun? Die Menge, von der ihn nur der stählerne Schlagbaum trennt, weiter hinhalten? Befehle abwarten? Oder selber einen Befehl geben, der von Menschlichkeit, Vernunft und vielleicht auch Angst diktiert wird, mit dem aber gegen jahrzehntelangen Gehorsam verstoßen wird?
Der Oberstleutnant holt seine Offiziere zusammen und brüllt ihnen den Befehl zu: „Macht den Schlagbaum auf!“ Das folgende Geschehen nimmt Harald Jäger wie in Zeitlupe wahr. Die Offiziere, die in dieser Nacht als Erste den Schlagbaum nach innen führen, die Menschen, die sich johlend an ihnen vorbeidrängen, sie sogar umarmen. Diese Bürger, so geht es ihm durch den Kopf, haben sich die Öffnung der Grenze soeben selbst erkämpft. Durch ihre Beharrlichkeit und ihren Mut.
„Niemand konnte wissen, ob die Staatsmacht nicht doch anders reagieren würde ...“ So beschreibt der Autor Gerhard Haase-Hindenberg die entscheidenden Minuten, als Harald Jäger den Befehl, niemanden ohne Pass und Visum ausreisen zu lassen, verweigerte. Sein Buch „Der Mann, der die Mauer öffnete“ (Heyne-Verlag) ist ein spannend- lehrreiches Stück Zeitgeschichte. Es erzählt das Leben eines überzeugten Sozialisten und Stasi-Offiziers, der schließlich mithilft, das Ende jenes Staates zu besiegeln, dem er über Jahrzehnte treu gedient hatte.
Ein Jahr lang haben sich der Autor und sein 64-jähriger Informant unterhalten – nun folgt die zweite Phase, unvermeidlich und absatzfördernd: Haase-Hindenberg und Jäger sind auf Lesereise, die Bekanntschaft mit einem aufgeschlossenen und kritischen Publikum in West und Ost ist für den ehemaligen Oberstleutnant eine lehrreiche Erfahrung. Auf die Frage, wie er sich 18 Jahre später fühlt, antwortet der Familienvater von drei Kindern: eigentlich sei er ein Verlierer der Wende. 1990 entlassen, denn der Arbeitgeber war weg. Kurze Zeit beim Grenzschutz, zwei Jahre arbeitslos, wegen der Stasi-Vergangenheit „wie eine heiße Kartoffel behandelt“, Taxi-Schein-Prüfung abgebrochen, dafür den Gabelstaplerschein gemacht, lieber Eisverkäufer geworden, dann einen Zeitungsladen eröffnet, das habe Spaß gemacht, aber nicht viel gebracht – schließlich, bis heute, Dienst beim Wachschutz. „Die Arbeit bekommt dir!“ meinte letztens ein Verwandter. Und die Politik? Harald Jäger sagt, er sei in der Bundesrepublik angekommen, „aber es war eine lange, beschwerliche Reise“. Geholfen habe dabei die Erinnerung an alle Ereignisse, die in dem Buch beschrieben seien, die Vorgänge im ZK der SED, Schabowskis „geistiger Dünnschiss“, der die Lawine in Bewegung setzte, die Hilflosigkeit der Vorgesetzten. Die Gespräche mit dem Autor waren für Jäger „wie im Beichtstuhl. Ich habe mir die Seele freigeredet, von A bis Z.“
Nun sitzen 300 Schüler eines Gymnasiums in ihrer Aula in Verl ebenso wie Leser in Cottbus oder Bielefeld in ihrer Buchhandlung, um den Mann kennenzu- lernen. „Eigentlich empfinde ich keine Grenzen mehr“, sagt er, „ich habe die einstigen Berührungsängste längst verloren. Für mich gibt es keine Wessis oder Ossis“. Im Westen sei man etwas reservierter, aber in 20 Minuten lege sich das, und im Osten könne man anders reden, da seien die Begriffe bekannt.
Die am häufigsten gestellten Fragen bei den Lesungen seien, ob es in jener Nacht für ihn Alternativen gegeben habe. Sicher, drei, aber zwei davon waren gefährlich, sagt Jäger dann. „Wenn einer von den Leuten oder einer von uns die Nerven verloren hätte – undenkbare Folgen“. Und weshalb, wollten andere wissen, haben Sie das 28 Jahre mitgemacht? „Es war mein Job, ich war kein Gegner der DDR. Von 16 Millionen Einwohnern waren die wenigsten Bürgerrechtler“. Hatte Jägers Flutungs-Befehl Folgen? „Erst nach der Wende erfuhr ich, dass der Militärstaatsanwalt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hatte.“
Im Lesedom zu Limburg kam am Ende eine Dame und sagte: „Herr Jäger, es war die Vorsehung, dass Sie am 9. die Befehlsgewalt hatten.“ Er antwortete: „Nein, es war der Dienstplan“.