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Dem Komponisten Lachenmann war das Abschlusskonzert des Festivals gewidmet.
© Kai Bienert

Festival für Neue Musik: Machen Sie es sich unbequem!

Es war ein Fest für die Ohren: Nach fünf Tagen ist das Festival für Neue Musik vorbei. Unser Autor ist immer noch benommen. Hier berichtet er, was er erlebt hat.

Fünf Tage geballte Musik. Fünf Tage Unerwartetes. Und fünf Tage musikalisches Detektivspiel: Am Sonntag ging Ultraschall Berlin, das Festival für Neue Musik, mit einem Tag für Helmut Lachenmann zu Ende. Zwei Ensembles und zwei große Orchester spielten vier spannende Konzerte. Sie führten alle Kompositionen von Lachenmann auf.

Ein wichtiger Schwerpunkt der Neuen Musik wurde schon beim Eröffnungskonzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Frank Ollu deutlich. Simon Steen-Andersen ließ in Double Up die vom Sampler abgespielten Klangfetzen und Alltagsgeräusche mitten im Orchester so erklingen, dass ein dichter musikalischer Comic entstand. Zusammen mit einem komplex eingesetzten, reichhaltigen Schlagwerk schafft Ollu ein neues Bewusstsein für die Musik in alltäglichen Dingen.

Der Klang des Alltäglichen: auch aus einer leeren Tüte holen die Musiker viel heraus.
Der Klang des Alltäglichen: auch aus einer leeren Tüte holen die Musiker viel heraus.
© Kai Bienert

Klassische Musik und Clownsmasken

Am zweiten Tag sehe ich die Neuen Vokalsolisten Stuttgart. Die sechs Sänger verstehen sich blind und führen mit ein wenig Sarkasmus durch das Programm. Diese Form der vokalen Neuen Musik war für mich neu und spannend.

Mit der Stimme geht es auch am Abend des dritten Tages weiter. Auf der Grundlage der Arie Here the deities approve aus Orpheus Britannicus von Henry Purcell entstanden im letzten Jahr 15 Werke verschiedener Komponisten. In der Aufführung werden Teile des Materials mit Szenen vermischt, in denen Gegenstände zu Boden fallen gelassen oder Clownsmasken aufgezogen werden.

Ein Wasserglas als Instrument

„Schon wieder so ein Ensemble, das kenne ich doch schon alles“, denke ich bereits am dritten Tag. Durch das dichte, bereits erlebte Programm hatte ich zwar schon Vorahnung, doch konnte ich einigen Stücken weniger Aufmerksamkeit schenken. Dadurch konnte ich in diesen Momenten etwas Neues zu finden: ein lustiges Lippenflattern oder ein Wasserglas als Instrument. Spätestens wenn ich die Schlagwerker, die oft viel zu tun hatten, bei ihrem energetischen Spiel bewunderte, reizte mich dieses Neue wieder.

„Wichtig ist, dass man sich eine Meinung bildet und zwei Sachen nebeneinander stehen lassen kann“, fasst es der sympathische Klarinettist und Komponist Jörg Widmann in einem Interview zusammen, das wir am folgenden Tag führen. Die Gelegenheit, mit Machern und Erschaffern der Musik zu sprechen, rückt sie uns näher und hilft, der Motivation und Idee hinter allem näher zu kommen. Sicher wäre das Konzert am Samstag in der Sophienkirche auch ohne Vorwissen spannend gewesen, da Widmann der Klarinette Töne entlockt, die ich nie erwartete hätte. Doch erfordert es immer auch Konzentration, sich in Musik oder die Idee dahinter hineinzuversetzen und den Willen dazu, sie wirklich zu verstehen.

Die Noten wirken wie ein geheimer Code

Ich wollte die Koordination der verschiedenen Stimmen und ihre musikalische Anlage begreifen, um diese Musik nicht nur an mir vorüberziehen zu lassen. Die Ausrede, man könne eben nicht alles verstehen, finde ich zu bequem. Zu verlieren habe ich nichts, wenn ich mir die Musik anhöre, Fragen dazu stelle und die Motivation hinter dieser Kunst verstehen zu versuche. Und wenn es nicht klappt, lasse ich es schlichtweg sein.

Ein Toilettenpömpel als Dämpfer: Die Musiker des UltraSchall wagen Neues.
Ein Toilettenpömpel als Dämpfer: Die Musiker des UltraSchall wagen Neues.
© Kai Bienert

Zwar gibt es ein breites Publikum für Neue Musik, doch wollte ich die Ursachen dafür herausfinden, dass ich vor dem Projekt mit den UltraschallReportern noch nie etwas von dieser Musik gehört hatte. Schnell fielen mir die Noten auf, die wie ein geheimer Code wirken. Sie können selbst langsam nicht vom Blatt gespielt werden. Wenn also ein Kind oder Jugendlicher ein Instrument lernt, bekommt er derartiges in den wenigsten Fällen vorgelegt. Schließlich braucht man für die meisten Noten oder Rhythmen ja doch klassische Techniken, die erst einmal erlernt werden müssen. Als ich selbst einmal an einem Flügel übte und mit der Hand in diesem einige Saiten abdeckte, um mit einem dumpferen, staccato-artigen Klang zu experimentieren, wurde mir das damals augenblicklich verboten. Im Kindergarten dürfen in der musikalischen Früherziehung Klänge spielerisch hergestellt werden, und auch im Studium begegnet man der Neuen Musik, doch in der Zeit dazwischen wird an Musikschulen oder im Musikunterricht wenig getan.

Neue Musik macht vieles anders - einen Dirigenten brauchen die Musiker aber trotzdem.
Neue Musik macht vieles anders - einen Dirigenten brauchen die Musiker aber trotzdem.
© Kai Bienert

Ich wünsche mir, dass die Neue Musik tiefer in die Gesellschaft dringt

Ich selbst bin oft genug überfordert - oder zufrieden mit den Möglichkeiten, die es ohnehin gibt. Ein Pop-Song dauert drei Minuten, hat Strophe und Refrain, gleiche Instrumentierung, weiche Melodiestimme und feste Harmonik. Selbst eine Jazz-Komposition enthält Struktur und bestimmte Akkorde. Wenn ich Beethoven auf dem Klavier oder Händel mit dem Chor aufführe, erlebe ich eine Schönheit, die ich nicht begreife und damit tiefe Zufriedenheit und Freude.

Die Musik überfordert mich - und weckt mein Interesse

Doch auch ich spiele gerne mal das was ich will, ohne Vorgaben zu haben und so, dass nicht alles Sinn ergeben muss. Gerne setze ich mich mit meinen kleinen Geschwistern an das Klavier und mache wortwörtlich ein Spiel auf beliebigen Tasten des Instruments. Ohne diese freie, ungezwungen offene Ebene würde mir etwas fehlen. Wenn diese ausprobierten Töne dann notiert und aufgeführt werden wie bei Widmanns Fantasie, werden Klänge aufzeigt, die überraschend sind und eine neue Ästhetik ausstrahlen, indem sie immer einen Bezug haben, aber unvorhersehbar sind. Wer alles weiß und sich in seiner Musik sicher fühlt, sollte im nächsten Jahr zu Ultraschall Berlin kommen. Er wird überfordert sein, aber merken, was ihm fehlt, sich hinterfragen und anschließend selbst auf die Suche nach Neuem machen.

Benjamin Gommert

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