zum Hauptinhalt
Unmittelbar nach der Räumung des linken Wohnprojekts Liebig 14 im Februar 2011 kam es in Friedrichshain zu schweren Krawallen.
© dpa

Ein Jahr danach: Liebig 14 - Die Nachbarn aus dem schwarzen Block

Vor einem Jahr räumte die Polizei die "Liebig 14". Das Haus ist saniert, längst sind neue Mieter eingezogen. Trotzdem kehrte im Kiez keine Ruhe ein.

Diese Adresse ist aus Berlins Straßenkarte verschwunden – die Liebigstraße 14 gibt es nicht mehr. Kein Eingang. Kein Klingelschild. Kein Briefkasten. Die Haustür des Altbaus ist mit Planken zugenagelt. Aber die Rechnung des Grundbesitzers ging nicht auf. Das vor einem Jahr geräumte linksalternative Wohnprojekt ist auch heute kein gewöhnliches Mietshaus. „Liebig 14 bleibt – haut ab“ hat jemand mit schwarzer Farbe an die Fassade im Erdgeschoss gesprüht. Protestplakate, Aufrufe zu Demonstrationen und „Erklärungen“ sind mit Tapetenkleister an Wände und Eingang geklebt. Wer in dem sanierten Altbau wohnt, muss mutig sein.

Denn durch die Räumung hat die Liebig 14 an Symbolkraft für die linksalternative Szene sogar gewonnen. Auf den Internetseiten rufen Aktivisten zu einer „Zombieparade“ auf: Die „von der Gentrifizierung und in die Höhe schnellenden Mieten verjagten Untoten“ versammeln sich am kommenden Sonnabend auf dem Bersarinplatz. Am Jahrestag der Räumung, dem 2. Februar, kommt es zu einer „Mahnwache“ vor der umkämpften „Liebig 14“ selbst. Die Polizei ist nach den Ausschreitungen vom vergangenen Wochenende alarmiert. Die Proteste der linken Szene zeigen: Sie will nicht hinnehmen, dass der Markt alternative Wohn-, Club- und Kulturstätten zerstört. Und dass sie auch sehr nachtragend sein kann.

Die Schlacht um ihr Wohnprojekt hat sie vor einem Jahr verloren. Gegen 2500 Polizisten, die mit Wasserwerfern, Hubschraubern und Räumfahrzeugen angerückt waren. Bis in die frühen Morgenstunden hatten sich die Krawalle hingezogen und waren auf verschiedene Quartiere in Friedrichshain übergesprungen. Die Bilanz: 61 verletzte Polizeibeamte, 82 Festnahmen, 22 der Festgesetzten wurden dem Haftrichter vorgeführt.

Die Liebig 14 ist heute saniert und neue Bewohner sind eingezogen. Aber sie teilen sich den Hauseingang mit den Nachbarn aus der Rigaer Straße 96. Der gemeinsame Flur führt über den Hof zur Rückseite des einst besetzten Hauses. „Hau ab“ hat jemand in einen leeren Blechkasten neben der Haustür gesprüht. Das blieb übrig von dem neuen Klingelschild der Liebig 14. Auch die Briefkästen der neuen Mieter haben Unbekannte aufgerissen und demoliert. An der weiß getünchten Fassade des Innenhofs ziehen sich die Spuren von roten und schwarzen Farbbeuteln herunter, die vom Dach an die Hauswand geschleudert wurden. Dreimal rückte die Polizei in den letzten Monaten an, zweimal wegen „Sachbeschädigungen“, einmal wegen „Störung des öffentlichen Friedens“, heißt es.

Das neue Klingelschild ist neben dem Hofausgang montiert. Namen stehen hier nicht, auch nicht an den Wohnungstüren. Aufgemalte Blümchen dienen stattdessen als Erkennungszeichen im Vierten, die Buchstaben „tT“ im Dritten. Auch die sieben Briefkästen, die notdürftig an eine Holzplanke im Hausflur des früheren Wohnprojektes geschraubt sind, hätten die Mieter wohl am liebsten unbeschriftet gelassen. Aber wer will schon auf Postsendungen vollständig verzichten?

"Es müssen Orte bleiben, wo junge Leute sich ausprobieren können"

Die frühere Eingangstür zur Liebigstraße ist auch von innen zugenagelt, Holzbohlen wurden rechts und links sowie oben und unten an den Rahmen genagelt. Ein Kleiderschrank steht davor. Weil man ihn notfalls zum Schutz gegen die verriegelte Haustür schieben kann? Fremden begegnen die Neuen misstrauisch, nur einer öffnet überhaupt die Tür. Und der will seinen Namen auch nicht nennen: Nein, sagt der Endzwanziger, der im Türrahmen steht, über seine Geburtsstadt wolle er auch nichts in der Zeitung lesen. „Die haben ein großes Netzwerk“, sagt er. Trotzdem denke er nicht an Wegzug. Es sei ja ruhiger geworden. Ja doch, auch bei ihm sei mal eine Scheibe gesplittert. „Aber die kümmern sich“, sagt er und meint den Vermieter. Der spendierte einem Pärchen im Haus sogar einen Platz in der Tiefgarage, nachdem es von einem Brandanschlag auf einen Opel Corsa aufgeschreckt worden war. Der alte Mercedes eines Mieters wurde auch verwüstet: Scheiben eingeschlagen, Reifen zerstochen, und auf dem Blechkleid hinterließen die Anhänger des Netzwerks den Schlachtruf, der hier überall prangt: „Liebig 14 bleibt, hau ab“. Der Mercedes-Besitzer gab auf. Aber nicht alle ziehen weg. Andere sagen, man dürfe die Straße nicht „denen“ überlassen. Auch wenn sie vom Dach aus Wasser ins Haus fließen lassen. Oder mit der Zwille Murmeln in die Scheiben schießen.

Der Brandanschlag spaltet die Szene. In einer „Erklärung“, die an der Hauswand klebt, ist zu lesen: „Wir finden es immer super, wenn irgendetwas von Beulkers ,Eigentum’ kaputtgeht.“ Beulkers ist der Hauseigentümer. Doch das Feuer hätte „ehemalige Nachbarn“ gefährden können. „Genau dieses Restrisiko halten wir politisch wie menschlich für fatal.“ Andere wie die „AntiYuppieFront“ rufen weiter zur Gewalt auf. „Steine, Metallkugeln, Brandsätze, Plakate, Postwurfsendungen, Mieter, Innenversammlungen und vieles mehr, der Kampf gegen die Gentrification ist im vollem Gange (...) hier Einzuziehen zahlt keine Versicherung.“ Wer daran denke, die Polizei zu rufen, solle besser „schnell den Wohnort wechseln“.

Von der immer wieder aufflackernden Gewalt distanziert sich der Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, Franz Schulz (Grüne), deutlich. Aber er sagt auch: „Es ist sehr bedauerlich, dass alle Versuche, sich zu einigen, an den hohen Mauern des Hauseigentümers gescheitert sind und die Situation eskaliert ist.“ Schulz setzte sich persönlich für das linksalternative Wohnprojekt ein, tat sogar eine Stiftung auf, die das Haus kaufen wollte. Denn für Schulz hat sich dieses „Lebensmodell nicht überholt“: Der Anspruch nach Selbstbestimmung, der Versuch, bürgerlichen Normen etwas entgegenzusetzen, seien „unheimlich wichtig“. Deshalb „müssen Orte bleiben, wo sich junge Leute ausprobieren können“.

Der 63-jährige Kommunalpolitiker sieht einen großen Veränderungsdruck am Werk, erklärt das mit „Strukturproblematik des Wohnungsmarktes“, redet von der dort herrschenden „sozialpolitisch paradoxen Situation“. Schulz war der erste Politiker, der sich an den runden Tisch mit Initiativen setzte, die gegen steigende Mieten protestieren, setzte sich eineinhalb Jahre Wut, Frust und Angst der Betroffenen aus. Das erträgt wohl nur, wer sich in die Lage anderer versetzen kann, weil er selbst Existenzangst kennt. Schulz, gelernter Physiker und dritter Sohn eines Malerverputzers, holte sein Abitur am Abendgymnasium nach und sparte sich das spätere Studium vom kargen Lohn als Fotolithograf ab.

Mit wenig Geld müssen auch viele Wähler in seinem Bezirk auskommen. Und „bei der Neuvermietung von Wohnungen gibt es gewaltige Sprünge“, sagt Schulz. Die Zusammensetzung der Bevölkerung verändere sich. In Kreuzberg am Chamissoplatz, in der Bergmannstraße-Nord und im Graefekiez sei die Gentrifizierung statistisch an den überdurchschnittlichen Einkommen abzulesen. Nicht aber im Zentrum der Hausbesetzerbewegung der achtziger Jahre – SO36 und Wrangelkiez. Aber auch da steigen die Mieten.

"Schokoladen", "Tacheles" - vielen anderen droht ebenfalls die Räumung

Schuld daran ist ausgerechnet eine Lebensform, die Hausbesetzer erfanden: die Wohngemeinschaft. Studenten-WG's zahlen Mieten, „die sich Familien oder Haushalte nicht leisten können“. Denn jedes WG-Mitglied trägt bei zur Mietzahlung – und nicht nur ein Elternteil für eine ganze Familie. So treiben sie die Gentrifizierung voran, bis sie selbst Opfer dieser Entwicklung werden. Wenn sie nach dem Abschluss des Studiums keinen Platz auf dem schwierigen Arbeitsmarkt finden oder eine Familie gründen – und die Mieten im Kiez nicht zahlen können.

Dem Schokoladen in der Ackerstraße, dem Tacheles an der Oranienburger, auch ihnen droht die Räumung in diesem Jahr. Die Liebig 14 wird als ein Schritt zur Auslöschung sozialer und städtebaulicher Freiräume für alternative Lebensentwürfe angesehen und hat Symbolkraft in linken Netzwerken wegen der kommenden Räumungen. Dass die Lage eskalieren könnte, erklärt der Stadtsoziologe Andrej Holm so: „Mit der Liebigstraße wurde der Befriedungsvertrag aufgekündigt, der bei vielen besetzten Häusern Anfang der neunziger Jahre abgeschlossen wurde.“ Politiker und linke Szene hatten die Lehre aus den Schlachten in der Mainzer Straße gezogen, aus zwei Tagen Gewalt, nahe am Bürgerkrieg. Doch nun werden die damals abgeschlossenen Mietverträge angegriffen. Und mit jeder Räumung werde die an den Häuserwänden „sichtbare Subkultur“ aus der Innenstadt verdrängt und damit „der Traum von der Mischung aus Leben, Arbeit und Wohnen“ an einem Ort, sagt Holm. Viele dieser Orte gibt es nicht mehr: den „Umsonstladen“ in der Kastanienallee, Knaack-Club, Klub der Republik und Icon. Andere sind bedroht: das Tuntenhaus oder das Tacheles.

Der Konflikt gewinnt auch deshalb an Schärfe, weil das Recht nicht immer auf der Seite der Hauseigentümer lag – den Besetzern das aber trotzdem nicht half. Das zeigte sich vor kurzem bei den Prozessen gegen acht Personen, die bei der Räumung der Liebig 14 im Haus angetroffen wurden. „Hausfriedensbruch“ wurde ihnen vorgeworfen. Zu Unrecht. Der Eigentümer hatte einzelne Bewohner auf Räumung verklagt, aber nicht den rechtmäßigen Mieter: einen Verein. Bekannt war das bereits ein Monat vor der Räumung, weil der Anwalt des Vereins gegen diese Rechtsschutz beantragt hatte. Den Zwangsvollstrecker konnte das nicht stoppen. „Die Räumung war illegal“, behaupten Aktivisten deshalb im Internet.

Vielleicht wäre es aber nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch gegen den Verein ein Räumungstitel vorgelegen hätte. Stadtsoziologe Holm meint, dass viele Verträge, die nach der großen Welle von Hausbesetzungen Anfang der neunziger Jahre an Runden Tischen vereinbart wurden, der Befriedung dienten und nicht bis ins Detail das Mietrecht beachtet haben.

Allerdings haben auch frühere Besetzer den Spielraum des liberalen Rechtssystems entdeckt und nutzen ihn als Kampfzone. Deshalb zieht sich die Räumung des Tacheles hin. „Im Grunde genommen wird der Staat an der Nase herumgeführt“, sagt Zwangsverwalter Holger Schwemer. Ständig würden neue Künstler auftreten und Ansprüche auf Teile des Areals stellen. Gegen jeden von ihnen muss Schwemer dann einen eigenen Räumungstitel beantragen. Auch die Besetzer haben dazugelernt.

Vier Stunden brauchte die Polizei, um ins Innere des Hauses zu gelangen und die Liebig 14 zu räumen. Die Besetzer hatten Türen von innen mit Holzplanken vernagelt und Öfen und Mobiliar davor geschoben. Die Beamten drangen über den Dachboden des Nachbarhauses ein und mussten Vorschlaghammer und Bolzenschneider einsetzen, um das Treppenhaus der Liebig 14 zu erreichen. Neun Menschen wurden im Haus angetroffen und festgenommen. Das Amtsgericht sprach sie später frei vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs.

Zur Startseite