Jüdische Berliner nach Terror von Paris in Sorge: Lieber doch nach Israel?
Gehen oder bleiben? Die jüdischen Familien in der Stadt sind vorsichtiger geworden. Die meisten wollen ihre Heimat aber nicht verlassen.
Durch die bunten Fensterscheiben dringt an diesem Sonnabend etwas Sonnenlicht vom Fraenkelufer in die Synagoge. Melodischer Gesang ertönt, gegen 11.30 Uhr wird die geschmückte Thorarolle wieder in den dafür vorgesehenen Schrein gelegt. Die etwa zwei Dutzend Kippa tragenden Männer legen ihren Tallit ab, einen viereckigen hellen Gebetsmantel, verziert mit dunklen Streifen. Ein kleines Mädchen rennt von den Frauen- zu den Männerbänken – in die Arme ihres Vaters. Der Gottesdienst ist zu Ende, die Gläubigen reichen sich die Hände, wünschen sich „Schabbat Schalom“.
Dann sitzen alle am langen Tisch im Nebenraum bei Brot und Wein, Lachs und Hering. Am Eingang zur Synagoge stehen Beamte, ein Polizeicontainer ist nur einige Schritte entfernt, mehrere Überwachungskameras sind an dem jüdischen Gotteshaus angebracht, das vor fast 100 Jahren geweiht wurde.
„Man ist nach den Vorfällen in Paris noch vorsichtiger geworden“, sagt Jonathan M. Er ist einer derjenigen, die das Zusammentreffen nach dem Gottesdienst organisiert haben, genau wie ein gemeinsames Abendessen am Vortag. „Dabei stimmen wir uns wegen der Sicherheit eng mit der Polizei ab“, sagt er: „Das ist schon belastend – auch weil jeder weiß, dass man einen gezielten Anschlag wohl nicht verhindern könnte.“ Jonathan M. ist Anfang 30 und in Berlin geboren. „Jüdisches Leben hat hier nie ohne Polizeischutz funktioniert“, sagt er: „Schon vor 25 Jahren standen Beamte vor meiner jüdischen Kita, ich kannte die meisten mit Namen.“
Täglich Anrufe von besorgten Eltern
Nach den Anschlägen von Paris haben manche Berliner Juden ihre Kinder nicht in den Kindergarten gehen lassen. Die Angst sei bei vielen Familien deutlich größer und konkreter geworden, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe: „Ich bekomme täglich Anrufe von besorgten Vätern und Müttern, die ihre Kinder in unsere Schulen oder Kindergärten bringen und genau beobachten, ob Sicherheitskräfte in ausreichender Zahl vorhanden sind.“
Jonathan M. hat noch keine Kinder. Seine Großmutter ist in Steglitz aufgewachsen, ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Die Großmutter schaffte es mit dem Kindertransport nach England und heiratete später einen nach Paris geflohenen Berliner Juden. Sie wäre gern in Frankreich geblieben, aber den Mann zog es zurück. „Seit Anfang der 50er Jahre lebt meine Großmutter wieder in Berlin“, sagt Jonathan M.: „Sie ist jetzt 93 und muss genau wie wir alle feststellen, dass jüdische Menschen auch hier wieder existenziell bedroht sind.“
Nur eine Frage der Zeit
Zwar sieht Gideon Joffe derzeit noch nicht die Gefahr einer Ausreisewelle nach Israel, wie sie in Frankreich nicht erst seit den jüngsten Anschlägen existiert. „Allerdings“, sagt er, „sind viele Berliner Juden froh, dass es heutzutage im Notfall die Möglichkeit gibt, nach Israel zu gehen.“ Zu ihnen gehört Sharon Adler, die „Aviva-Berlin“ herausgibt, ein Online-Frauenmagazin mit jüdischen Inhalten. Sie sagt: „Wir leben seit Jahren im Bewusstsein, dass etwas passieren kann – auch in Berlin. Ich will nicht pessimistisch klingen, aber es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit.“ Sharon Adler ist in Berlin geboren und würde nie nach Hamburg oder München gehen. Nach Amerika oder Israel aber schon, wenn es hier noch schlimmer wird, sagt sie.
Benno Bleiberg hingegen hat noch nie über einen Umzug nach Israel nachgedacht. „Ich bin Berliner“, sagt der 61-jährige Anwalt: „Und dass es in Israel sicherer sein soll als hier, bezweifle ich stark.“ Bleiberg hat schon seine Bar Mizwa, die Feier der Religionsmündigkeit, in der Synagoge am Fraenkelufer erlebt. „Ende der 60er Jahre hatten wir Probleme, genügend Beter – zehn müssen es sein – zusammenzubekommen“, sagt Bleiberg, „aber dann kam die erste Einwanderungswelle aus Polen und Russland und nach 1989 die zweite.“ Heute besuchen auch viele israelische Familien, die in Kreuzberg wohnen, die Synagoge am Fraenkelufer.
Israelis kommen gern nach Berlin
In Israel ist Berlin nämlich noch immer angesagt, meint Dekel P., der Israeli ist und seit zwölf Jahren hier lebt. „Viele kommen gern, weil Deutschland wirtschaftlich gut dasteht, es ein tolles kulturelles Angebot gibt und weil man weiß, dass jüdisches Leben hier nicht nur erwünscht ist, sondern im Gegensatz zu Frankreich auch massiv geschützt wird.“
Nina P., Dekels Frau, gehört wie er zu den Initiatoren des Vereins der Freunde der Synagoge Fraenkelufer. Sie organisieren Veranstaltungen für die Gemeinde, sind aber auch offen für andere Bewohner in ihrem Kreuzberger Kiez. „Neulich hatten wir eine 8. Klasse aus einer benachbarten Schule zu Gast“, sagt die 32-Jährige: „Fast alle waren Muslime, die das erste Mal eine Synagoge besuchten und sehr aufgeschlossen reagierten.“
Die Ereignisse von Paris hätten sie sehr traurig gemacht, sagt Nina P., aber ihr gehe es wie vielen Berliner Juden: Die verbalen und körperlichen Attacken im Zusammenhang mit den kriegerischen Auseinandersetzungen in Gaza im vergangenen Jahr seien fast noch schockierender gewesen.
Ohne Kippa und Davidstern
Letztlich würden diese Ereignisse die jungen Juden aus Kreuzberg aber nur in ihrem Engagement für ein friedliches Miteinander bestärken, sagt William G., der aus Connecticut kommt und sich vor ein paar Jahren auf einer Israel-Reise in eine Berlinerin verliebt hat. „Die Frau ist weg, aber die Liebe zu Berlin ist geblieben“, lacht der 28-jährige Amerikaner: „Ich will auch gar nicht in einer jüdischen Blase leben. Ich habe hier wunderbare muslimische Nachbarn aus Mazedonien, urdeutsche Studenten als Freunde und keine Probleme damit, dass ich Teil einer Minderheit bin und die Welt nicht jüdisch ist.“ Er fühle sich, betont William G., von Neonazis mindestens genauso bedroht wie von islamistischen Eiferern. Glücklicherweise sei ihm nie etwas geschehen. Auch Benno Bleiberg ist bislang noch nie angegriffen worden, allerdings zeigt er sich in der Öffentlichkeit auch nicht mit Kippa oder Davidstern. Wohl fühlt er sich dennoch. „Hier ist meine Heimat, meine Familie, meine Synagoge.“
Auch Jonathan M. sieht derzeit keinen Grund, nach Israel auszuwandern. Aber ein Grund, es nicht zu tun, sei – so sagt er – seit den Anschlägen von Paris verschwunden: die Gewissheit, in Berlin sicherer leben zu können als in Israel.