Hertha sucht neues Zuhause: Leidenschaft ist keine Frage des Raumes
Zwischen Länderspiel und Bundesliga: Ist das Olympiastadion schuld, wenn das Fußballspiel schlecht läuft? Eine Analyse.
Hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft am Samstagabend im Olympiastadion gegen England verloren, weil Löws Truppe nicht in einem richtigen Fußballstadion antreten durfte, sondern in einem Leichtathletikstadion auflaufen musste, in dem keine so richtig dramatische Atmosphäre aufkommen konnte? Oder haben die Engländer einfach besser gespielt?
Und, wenn ja: Waren sie die besseren Kicker nicht alleine dank ihrer größeren Leidenschaft, sondern weil sie von einem begeisterten Publikum im gegnerischen Stadion unterstützt wurden? Und waren die englischen Fans vielleicht auch deshalb so von der ersten bis zur letzten Minute bei der Sache, weil die deutschen Zuschauer in der Ostkurve am Anfang etwas getan hatten, was einfach dumm ist: gepfiffen, während das Musikcorps der Bundeswehr „God, Save the Queen“ intonierte?
Verhindert das Olympiastadion Leidenschaft?
Nach all diesen Fragen, die jeder für sich beantworten möge, sind wir bei Hertha gelandet. Die Vereinsführung träumt von einem neuen Stadion, einem reinen Fußballstadion, weil sich in dem erst die wahre Leidenschaft entfachen könne, jenes Feuer, das auch in einer vermeintlich fast schon verlorenen Partie die eigene Mannschaft zu einer kaum für möglich gehaltenen Höchstleistung aufputscht?
Hat Hertha im Olympiastadion manchmal verloren, fragt sich die Vereinsführung offenbar, weil im riesigen Oval, wo zwischen Spielfeld und Zuschauern eine breite Laufbahn Fans und Akteure von einander trennt, die Euphorie nicht aufkommen kann, von der Fußball am Ende lebt, die mit auch die Faszination dieses Sports ausmacht? Und ist die gefühlte Verlorenheit im Olympiastadion auch ein Grund dafür, dass es eigentlich nur bei den Hertha-Heimspielen gegen Dortmund und Bayern München ausverkauft ist?
Ein richtiges Fußballstadion für 55 000 Zuschauer, dass sei es, was der Verein braucht, ist zu hören und zu lesen, das würde dann nicht nur bei den erwähnten zwei, sondern bei allen Heimspielen ausverkauft sein.
Es braucht kein neues Stadion, sondern eine bessere Leistung
Was so logisch klingt, könnte auch einfach nur Ergebnis eines zu kurzfristigen Denkens sein. Herthas Fußballgeschichte ist von großer Wechselhaftigkeit geprägt. Höhenflüge wie jetzt, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigen, waren selten, sehr selten. In der Saison 1991/92 spielte Hertha in der 2. Bundesliga Nord. Der Negativzuschauerrekord bei einem Heimspiel gegen Hannover 96 lag da bei 2307. Ab 1997/98 kickte die Mannschaft wieder in der Ersten Bundesliga, aber in den Folgejahren waren auch Spiele gegen den HSV, Rostock und Schalke sehr gut besucht. Die Nähe spielt also eine Rolle, die Prominenz der Gastmannschaft, der große Name.
Hertha aber hat, so leid es mir tut, keinen großen Namen. Den muss sich die Mannschaft durch kontinuierliche Leistung erst wieder erspielen. Dann werden auch mehr Zuschauer kommen. Bis dahin haben die Fußballer von Hertha heftige innerstädtische Konkurrenz, einmal von Union, die in der 2. Bundesliga bei Heimspielen oft fast 20.000 Zuschauer hat. Zu den Eisbären kommen im Schnitt 13.000, zu Alba 10.000, zu den BR-Volleys 5200, zu den Handball-Füchsen 9000 Fans.
Das sind zusammen mit einem durchschnittlichen Hertha-Heimspiel-Schnitt von 45.000, insgesamt mehr als 100.000 Sportbegeisterte. In einer Region mit, das Umland inbegriffen, rund fünf Millionen Menschen, ist das nicht unbegrenzt steigerbar. So verständlich die Hoffnung ist, über ein Stadion mit mehr Ausstrahlung mehr Zuschauer und mehr Punkte zu erreichen – am Anfang muss die Kontinuität der Leistung stehen.
Eine gewachsene Fan-Kultur muss sich erst noch entwickeln
Und noch eines macht die Lage in Berlin kompliziert: Seit der Wende haben etwa 1,5 Millionen Menschen die Stadt verlassen, genauso viele sind neu gekommen. Da braucht es Zeit, um eine gewachsene Fan-Kultur zu entwickeln. Übrigens auch in der Mannschaft. Ohne vertraute Namen, wie Fabian Lustenberger, der noch von Lucien Favre nach Berlin geholt wurde, gibt es keine Kontinuität der Zuschauerbegeisterung.
Wenn es Hertha ungeachtet aller Probleme gelingt, einen Financier für ein neues Fußballstadion zu gewinnen, wunderbar. Andere Clubs haben das vorgemacht. Auf den Steuerzahler sollte der Verein dabei aber nicht rechnen. Der hat andere Sorgen. Und ob am Ende wirklich alleine das Stadion die Gewähr für dauerhafte Spitzenleistungen bietet, ist mehr als fraglich. Und damit sind wir wieder beim Fußball-Länderspiel vom Samstagabend. Um die Frage gleich zu beantworten – ja, der Verfasser ist Mitglied bei Hertha BSC.