Forschung und Schwarmintelligenz: Läuft einer bei Rot, laufen alle los
Wie viel Hering ist im Menschen? Professor Jens Krause ist Verhaltensforscher. Für die Suche nach dem richtigen Bahnsteig hat er einen guten Rat.
Neulich wäre Jens Krause fast überfahren worden. Er hatte nicht aufgepasst und war bei Rot über die Straße gelaufen. Reifen quietschten, der Autofahrer schimpfte und Professor Krause entschuldigte sich. „Wochenlang habe ich mit meinen Doktoranden das Verhalten von Menschen an roten Ampeln erforscht“, erzählt Krause. „Das Ergebnis: Geht einer, gehen viele... und dann passiert ausgerechnet mir das Malheur.“
Jens Krause ist Verhaltensbiologe am Leibnizinstitut für Gewässerökologie und Binnenfischerei und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Forschungsgebiet: Das kollektive Verhalten und die Selbstorganisation bei Tier- und Menschengruppen. Im Aquarium seines Büros mit Blick auf den Müggelsee tummeln sich Guppys und Stichlinge. Fachliteratur in den Regalen und an der Wand ein Poster mit Fischfotos. Mittendrin Jens Krause. Ein 52-Jähriger mir langen Haaren, Brille und Jeans. Einer, der eher wie ein Student als wie der Herr Professor selbst aussieht. Nach dem Studium in Cambridge, Forschungen in den USA und einer Professur in Leeds kam er 2009 nach Berlin zurück und versucht, das Schwarmverhalten von Tieren auf den Menschen zu übertragen. Zum Beispiel in der Panikforschung. Wodurch entsteht Panik? Wie kann man sie rechtzeitig erkennen, um ein Drama wie 2010 bei der Loveparade in Duisburg zu verhindern? „Wir wissen, dass bei einer Ansammlung von vier Menschen auf einem Quadratmeter eine kritische Situation entsteht. Wir könnten das Olympiastadion, die Waldbühne oder andere Großveranstaltungen mit Kameras überwachen. Ist der kritische Punkt erreicht, könnten wir die Menschen rechtzeitig umleiten.“
Ein privates Aquarium besitzt Krause allerdings nicht. Dafür ist er zu oft unterwegs. Seine Aquarien heißen Havel, Spree und Wannsee. Hier trainiert er mit Studenten die Tauchgänge für spätere Forschungseinsätze. „In den Berliner Gewässern üben wir regelmäßig. Hier gibt es zwar keine Haie wie auf den Bahamas und keine Segelfische wie in Cancun, aber unsere einheimischen Räuber Hecht, Zander und Flussbarsch sind auch sehr spannend.“ Die morphologischen Forschungsdaten der Segelfische werden im Verbund mit der Charité und dem Naturkundemuseum in Berlin ausgewertet.
Die weltweiten Forschungen seines Teams zeigen, dass einzelne Fische bei der Erkennung von Räubern häufiger Fehler machen und für ihre Entscheidungen länger brauchen als Fische im Schwarm. „Viele Augen sehen eben mehr als zwei. Gemeinsam handeln sie dann wie ein Kollektiv. Es gilt die Weisheit von vielen, denn ein Schwarm ist immer mehr als nur die Summe der Einzelnen.“
Der Versuch mit Menschen in einer Kölner Messehalle hat gezeigt, dass nur fünf Prozent einer Gruppe über richtige Informationen verfügen müssen, um die restlichen 95 Prozent mitzuziehen. Von 200 Personen, die sich zwanglos in der Halle bewegten, bekamen zehn die Information, wohin sie gehen sollten. Auf ein Zeichen hin setzten sie sich in Bewegung und 15 Sekunden später liefen alle hinterher. Was Frank Schätzings Goldkmakrelen im Roman „Der Schwarm“ können, ist also auch bei Menschen machbar. Auch von Ameisen haben wir viel gelernt. Große Logistikunternehmen haben die Auslieferung ihrer Waren von ’Cyber-Ameisen’ testen lassen. Welches ist der kürzeste Weg, wenn Kunden in 20 verschiedenen Städten beliefert werden sollen? Virtuelle Ameisen wurden losgeschickt und nach wenigen Minuten gab es die perfekte Lieferroute. Dank der Intelligenz der PC-Ameisen spart das Unternehmen Procter & Gamble jährlich 300 Millionen Euro Transportkosten.
Zum Testen, wie Schwärme reagieren, haben Krause und sein Team einen fünf Zentimeter großen Roboterfisch entwickelt. Der computergesteuerte Robo schafft es, richtige Fische so zu leiten, wie die Wissenschaftler es wollen. „Die Experimente zeigen, dass sich ein einzelner Fisch vom Futter wegleiten lässt, während ein Schwarm die damit verbundene Gefahr erkennt.“ Kritiker der Schwarmintelligenz behaupten allerdings, man könne Gehirne nicht miteinander verknüpfen und deshalb gäbe es nicht die gebündelte Intelligenz von Vielen. Jens Krauses Experimente hingegen zeigen das Gegenteil. „Ein gutes Beispiel für die kollektive Intelligenz ist das Internet. Auf den Fanseiten von Facebook werden voneinander unabhängige Informationen zur kollektiven Kreativität gebündelt. So entstehen Dinge, die ein Einzelner niemals erreichen kann. Nur wenn hochqualifiziertes Wissen nötig ist, versagt die kollektive Intelligenz und kann sich sogar in Schwarmdummheit umkehren.“
Zum Schluss noch ein Tipp des Fachmanns: Wenn Sie die Zugansage auf dem Bahnhof nicht verstanden haben, laufen sie einfach den anderen hinterher. Wie gesagt: Der Schwarm ist intelligenter als der Einzelne.
Rolf Kremming