Tagesspiegel-Serie "20 Wende-Geschichten": Kulturschock am Ku’damm
Am 11. November machten sich Claudia Haisler und ihre Freundin Manuela Mundt von Dessau auf den Weg nach Berlin. Die Menschenmassen schreckten sie eher ab – und auch ein nicht ganz schmackhafter Burger.
„Danach bummelten die beiden Freundinnen über den Kudamm und staunten, was es dort alles zu kaufen gab.“ Aus dem Aufsatz von Til Haisler
Der Burger lässt Til Haisler nicht los. Dass seine Mutter und ihre Freundin so enttäuscht von ihrem ersten Burger einer bekannten Fast-Food-Kette waren, die es in der DDR nicht gab, kann er nicht verstehen. „Der Burger war das Erste, das wir uns am Zoologischen Garten von unserem Begrüßungsgeld gekauft haben“, erzählt ihm Claudia Haisler noch mal. „Aber so lecker fanden wir den einfach nicht.“ Überhaupt haben sie nicht nur gute Erinnerungen an ihren ersten kurzen Aufenthalt in West-Berlin.
Im Herbst 1989 besuchten die beiden Freundinnen die elfte Klasse der Erweiterten Oberschule in Dessau, Sachsen-Anhalt, und waren beschäftigt mit Abitur, Freunden und Partys. Auch an einigen Demonstrationen gegen das SED-Regime, die sich zu dieser Zeit über die ganze DDR erstreckten, nahmen Claudia Haisler und Manuela Mundt teil. „Das war nicht ungefährlich, weil die Demonstrationen eigentlich von der DDR-Regierung verboten worden waren“, schreibt Til Haisler in seinem Aufsatz für den Wettbewerb des Tagesspiegels. „Richtig wahrgenommen haben wir die Ungerechtigkeiten aber nicht“, erzählt Manuela Mundt ihrem Patenkind Til. „Als Jugendlicher hat man das vielleicht auch nicht richtig mitbekommen. Klar waren wir nicht begeistert, dass wir keine coolen Klamotten aus dem Westen hatten, oder dass wir nicht verreisen konnten. Aber wir kannten es nicht anders.“
Die Bilder vom Mauerfall in Berlin am 9. November kennen die beiden langjährigen Freundinnen nur aus dem Fernsehen. „Obwohl es sich ja schon angedeutet hat, waren wir fassungslos und mussten den Mauerfall und seine Folgen erst mal realisieren“, erinnert sich Claudia Haisler. „Am Freitag sind wir ganz normal zur Schule gegangen, wir haben auch mit den Lehrern nicht darüber gesprochen.“ Das Thema wurde totgeschwiegen. Aber gemeinsam mit ihren Freunden planten sie am Samstag nach Berlin zu fahren. „Mitten in der Nacht sind wir losgefahren. Der Zug war rappelvoll, wir alle saßen auf dem Boden", erzählt sie ihrem Sohn. „Sehr früh am Samstagmorgen waren wir dann am Ostbahnhof, von da aus sind wir zu Fuß zum Grenzübergang an der Warschauer Straße gelaufen.“ „Und da seid ihr dann nach West-Berlin rübergegangen“, wirft der Elfjährige ein. „Genau, wir haben unseren Pass vorgezeigt und sind dann mit der U-Bahnlinie 1 bis zum Zoologischen Garten gefahren.“ Dort haben sich die beiden 18-Jährigen auch ihr Begrüßungsgeld abgeholt. Ob sie die 100 DM bei einer Bankfiliale abgeholt haben oder vielleicht beim Sparkassen-Bus, der vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stand, um die Filialen zu entlasten, daran können sie sich nicht mehr erinnern. „Schade“, sagt Til. Gerne würde er alles über diesen Tag wissen.
Sie spazierten den Kurfürstendamm entlang, von den Geschäften haben sie aber nicht viel gesehen. „Es war so voll, man konnte in die Geschäfte gar nicht reingehen“, sagt Tils Mutter. „Und auf dem Breitscheidplatz, vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, standen LKWs einer Supermarktkette, die Kaffee und Schokolade in die Menschenmassen geworfen haben.“ Auf den LKWs waren Zettel aufgeklebt: Kostenlos für alle DDR-Bürger. Ein Pfund kaiserlicher Kaffee und eine kaiserliche Schokolade. „Das fanden wir blöd. Ich war auch froh, als wir nach wenigen Stunden zurück nach Dessau gefahren sind“, sagt Manuela Mundt. „Berlin war für mich ein kleiner Kulturschock und die Menschenmassen haben mich etwas erschlagen. Deshalb habe ich auch nicht nur positive Erinnerungen an diesen Tag.“
Eine ganze Menge weiß Til Haisler über die Berliner Mauer und das geteilte Deutschland. Auch sein Vater ist in der DDR, in Freiberg in Sachsen, aufgewachsen. Schon früh habe er angefangen, seine Eltern mit Fragen über das Leben in der DDR zu löchern. Seine Schule, die Gustav-Heinemann-Oberschule in Marienfelde, liegt nah an der Grenze zur ehemaligen DDR. „Da führt auch der Berliner Mauerweg entlang“, erzählt der Sechstklässler seiner Mutter. Etwas versteht er aber nicht: „DDR heißt doch Deutsche Demokratische Republik - warum gab es dann im Westen die Demokratie und im Osten die Diktatur?“, fragt er seine Mutter. Claudia Haisler lacht. „Ja, sie haben die DDR zwar demokratisch genannt, aber sie war es nicht. Die Partei hat bestimmt.“ Fasziniert ist Til, als seine Mutter und seine Patentante von ihrem früheren Geschichtsunterricht in der DDR erzählen: „In der Abiturstufe haben wir uns nur mit der Geschichte der Partei beschäftigt. Ich weiß noch, dass wir mit so einem dicken Wälzer gearbeitet haben: Geschichte der SED. Unser Geschichtslehrer war im Unterricht immer total lustlos. Erst als die Mauer gefallen ist, blühte er richtig auf. Dann hat Geschichte auch Spaß gemacht.“ Als Til das hört, ist er erst recht froh, dass es die DDR nicht mehr gibt. Langweiliger Geschichtsunterricht - das wäre nichts für ihn.