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Berlin: Kreuzberg ist sein Konzertsaal

Irgendwann hat Helmut sein Klavier auf ein Rollbrett gestellt, seitdem zieht er es immer hinter sich her. Seit 20 Jahren spielt der Mann, der sich einfach Helmut nennt, immer da, wo es ihm gerade gefällt.

Die Melodie von Mozart mischt sich unter das Gehupe der Autos am Kottbusser Damm. Beethoven begleitet die Menschen beim Einkauf. Einige bleiben stehen, lauschen, schließen die Augen. Andere hetzten weiter. Ein kleines Mädchen wiegt sich in ihrem ganz persönlichen Rhythmus zum Takt der Musik.

Helmut sitzt einfach da und spielt, mitten auf der Straße, direkt gegenüber vom Discounter. Blaues Sakko, dunkler Schal, den Kopf nach unten geneigt. Die Autos und vorbeigehenden Menschen nimmt er gar nicht wahr. Seine Finger gleiten über die Tasten, und ab und zu wirft jemand eine Münze in seinen Hut. Langsam geht die Sonne unter, die Luft wird frisch, Helmut spielt einfach weiter.

Seit mehr als 20 Jahren fährt Helmut mit seinem Klavier durch die Straßen, in Kreuzberg hat ihn fast jeder schon mal irgendwo spielen gesehen. Seinen Nachnamen will er lieber nicht nennen. „Früher war ich besser“, sagt er mit einem Lächeln. „Heute bin ich ein bisschen ramponiert. Meine Finger werden steif.“ Er ist jetzt 71 Jahre alt. Ein paar seiner Zähne haben sich mit den Jahren verabschiedet. Seine Kleidung riecht nach kaltem Rauch, und sein rechter Zeigefinger hat sich mit der Zeit gelblich gefärbt.

Einen festen Plan hat er nicht. Wann, wo und was er spielt, entscheidet er spontan. Oft sitzt er vorm Netto im Graefe-Kiez, beim Atlantic in der Bergmann-/Ecke Nostitzstraße oder in einer verstecken Ecke im Viktoriapark. Einmal nur hat er sich aus Kreuzberg herausgewagt und sein Glück in Zehlendorf versucht, aber dort kam sofort das Ordnungsamt und forderte ihn auf, wegzugehen. In Kreuzberg wird er toleriert. Die meisten Polizisten kennen ihn und machen einen Bogen um ihn, lassen ihn spielen. Anders als andere Straßenmusikanten zieht er nur langsam von Ort zu Ort. Manchmal bleibt er bis zu drei Stunden an einer Stelle sitzen. Wer will, kann etwas in seinen Hut werfen, aber aufstehen und rumgehen, das möchte er nicht.

„Früher war ich ehrgeizig“, sagt Helmut. „Ich wollte sogar Komponist werden, aber eigentlich bin ich Klavierbauer.“ In Köpenick aufgewachsen, packte er mit 20 seine Sachen und floh Hals über Kopf in den Süden, nach Portugal. Seine Mutter packte ihm noch den Proviant ein. Später ging er nach Lateinamerika, reiste für das Goethe-Institut herum und stimmte Klaviere. Zurück in Berlin, eröffnete er einen Laden in Charlottenburg und eine Werkstatt in Kreuzberg. Das Geschäft lief gut, aber mit der Wende ging es für ihn bergab. Die Preise fielen, die Konkurrenz stieg und Anfang der Neunziger setzte er sich zur Ruhe. Helmut setzte sich wieder ans Klavier und begann zu spielen. Allein zu Hause, das war ihm zu langweilig, er wollte raus auf die Straße. Also kam ihm die Idee mit dem mobilen Klavier. Er stellte das Instrument einfach auf ein Rollbrett, befestigte es mit einem Ledergurt und begann durch die Straßen zu ziehen. Abends rollt er es einfach in den Hinterhof seines Hauses, und wenn es regnet, lässt er es im Hausflur stehen.

Meistens fängt Helmut gegen Nachmittag mit dem Spielen an, oder wie er sagt: mit dem „Üben“ an. „Zum Feierabend sind die Leute entspannter“, sagt er. Lieder von Mozart und Schubert spielt er am liebsten. An manchen Tagen, wenn er ein Gläschen Wein zu viel getrunken hat, hüpfen seine Finger schon mal über die Tasten, spielen Jazz oder Swing. Manchmal fangen die Leute dann sogar an zu tanzen.

Doch auch, wenn die Flasche Rotwein immer neben seinem Hut steht, so bleibt Helmut doch meist bei den klassischen Kompositionen. Denn in der Flasche ist nicht immer nur der gute Merlot, oft hat er sie auch mit Traubensaft gefüllt. „Wenn ich keinen Rotwein dabei habe, denken die Leute noch, dass ich es nicht mehr lange mache“, sagt er und grinst. Dann nimmt er einen Schluck, wendet seinen Blick wieder nach unten zu den Tasten und spielt Mozart im Duett mit den Autos.

Stella Marie Hombach

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