Notrufe in Berlin: Krankenwagen kommen immer später
Weil Betten auf Intensivstationen fehlen und Notaufnahmen unterbesetzt sind, irren Krankenwagen durch die Stadt. Die Feuerwehr kritisiert das Gesundheitssystem, fährt aber selbst längst auf Reserve.
Der Krankenwagen in Berlin kommt immer später. Nur die Hälfte der Fahrzeuge erreicht den Patienten innerhalb der mit dem Senat vereinbarten acht Minuten. Landesbranddirektor Wilfried Gräfling sprach beim Vorstellen der Bilanz 2012 am Donnerstag von einer „deutlichen Verschlechterung“. Er warnte: „Reserven für Großschadensereignisse sind nicht mehr vorhanden.“ Der Feuerwehrchef hält 264 Neueinstellungen, 35 zusätzliche Rettungswagen und neue Wachen für erforderlich, damit die Notfallrettung nicht zusammenbricht. Durchschnittlich benötigt ein Rettungswagen 9,1 Minuten. Am Stadtrand kann es deutlich länger dauern.
Innensenator Frank Henkel (CDU) sagte der Feuerwehr zu, sich beim Finanzsenator für 200 zusätzliche Stellen in den kommenden vier Jahren einzusetzen. Verursacht wird die Krise im Rettungsdienst durch die Zahl der Einsätze – 2012 ist sie um 2600 auf 360 000 gestiegen. Während die Zahl der Brände um 18 Prozent auf 6860 abnahm, legten Rettungsfahrten um zwei Prozent auf 292 000 zu. Seit 2002 stieg sie um 36 Prozent. Die Gründe dafür sind bekannt: Die Zahl der Berliner und Touristen steigt, die Bewohner werden außerdem immer älter.
Fehlende Betten auf den Intensivstationen, zu wenig Personal
Doch schuld – so die Feuerwehr – ist auch das Gesundheitssystem. Massiv kritisiert sie die Krankenhäuser: Von „fehlenden Intensivbetten, überlasteten und personell mangelhaft ausgestatteten Notaufnahmen“ ist im Jahresbericht die Rede. Seit Jahresanfang häufen sich laut Gräfling die Fälle, in denen Kliniken ankommende Notfälle nicht annehmen, sich den Patienten nicht mal ansehen: „Der Rettungswagen wird einfach zur nächsten Notaufnahme weitergeschickt.“ Noch häufiger würden sich Kliniken morgens bei der Leitstelle als belegt „abmelden“. Die Feuerwehr sieht „Handlungsbedarf für Gesundheitspolitiker“. Innensenator Frank Henkel – der von dieser scharfen Kritik offenbar überrascht wurde –, sagte ein Gespräch mit Gesundheitssenator Mario Czaja (beide CDU) zu. Weiter äußerte sich Henkel zu den Kliniken nicht. Innenexperte Benedikt Lux (Grüne) nannte es „nicht hinnehmbar, dass Krankenhäuser Notfallpatienten von A nach B schicken“. Der Chef des Innenausschusses, Peter Trapp (CDU), will das im Parlament besprechen.
Eine Datenbank soll zeigen, wo Betten frei sind
Die Kliniken reagierten verhalten – wobei einige einräumten, dass Rettungsstellen tatsächlich oft knapp besetzt seien. „Dass es Engpässe bei Intensivbetten gibt, ist bekannt“, sagte der ärztliche Direktor der Charité, Ulrich Frei. „Wir wünschen uns deshalb eine entsprechende Datenbank, auf die von der Feuerwehr zugegriffen werden kann.“ Dort sollen alle freien Betten eingespeist werden, die Rettungswagen könnten flexibel nachsehen, wohin sie bestimmte Patienten bringen. Wiederholt hatten Ärzte eingeräumt, dass bei der gegenwärtigen Finanzierung der Kliniken kaum Besserung in Sicht sei.
Wie berichtet, werden die von den Krankenkassen pro Fall bezahlten Pauschalen in vielen Häusern als zu niedrig bewertet. Mit diesen Kassensätzen aber muss das Personal in den Rettungsstellen bezahlt werden. Die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) kritisiert allerdings auch die eigene Zunft: Weil in Berlin kaum Praxen außerhalb der üblichen Zeiten offen hätten, würden auch weniger dramatische Fälle in die Rettungsstellen kommen. Wem am Wochenende übel ist, geht in Ermangelung einer offenen Praxis zur Notaufnahme. Die Kliniken erfüllten so nicht nur ihren Versorgungsauftrag, sondern den von niedergelassenen Ärzten mit, sagt Timo Schöpke von der DGINA. Schöpke ist auch Chef der Rettungsstelle im Kreuzberger Urban-Krankenhaus. In Berlin existiert eine Notfallpraxis im Wedding, dazu vier Bereitschaftsdienststellen für Kinder. Die meisten Berliner dürften diese Praxen kaum kennen. Außerdem reicht Schöpke zufolge die Praxis ohnehin nicht. Im halb so großen Hamburg gibt es zwei. Laut der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) wurden 2011 mehr als 129300 Patienten in Praxen außerhalb der üblichen Sprechzeiten behandelt. Rettungsärzte schätzen aber, dass jährlich 700 000 Patienten in den Rettungstellen dort gar nicht hätten behandelt werden müssten, wenn die ambulante Versorgung besser wäre. Ein leichter Fall blockiere womöglich einen schweren.
Senator Czaja sagte, er gehe das Problem an. Und wisse, dass Kliniken besonders überlastet seien, wenn es in der Nähe wenig Notfallpraxen gebe – oder der ambulante Bereitschaft der KV de facto unbekannt ist. „Ich bin dazu mit der KV bereits im Gespräch“, sagte Czaja.