Rudolf-Wissell-Brücke: Kleingärtner sorgen sich wegen der Neubaupläne
Die Rudolf-Wissell-Brücke soll abgerissen werden. Nur wie, fragen sich die Kleingärtner unter dem Bauwerk. Bisher hat niemand mit ihnen gesprochen.
Das hier ist Idylle. Apfelallee, Nelken- oder Asterweg heißen die schmalen Wege, auf denen man kaum nebeneinander laufen kann. An den Rändern wachsen Gänseblümchen und Löwenzahn, überall blühen die Bäume. Es ist ruhig – wenn nicht gerade ein Zug auf der Ringbahn vorbeibrettert.
Eingeschlossen zwischen S-Bahn-Gleisen und ICE-Strecke liegt die Kleingartenkolonie der „Eisenbahn-Landwirtschaft“, man kommt nur durch einen kleinen Tunnel hinein, der so niedrig ist, dass jeder normal große Mensch aufpassen muss sich nicht den Kopf zu stoßen. Hinter dem Tunnel strahlen die Lauben um die Wette: gelbe Fensterläden, glänzende Dächer, alles ist einfach schön hier. „Manche schneiden ihren Rasen mit der Nagelschere“, sagt Michael Gaede, Vorsitzender des Vereins, und lacht, als er an einem besonders akkuraten Grün vorbeigeht.
Die alte Brücke kann nicht mehr saniert werden
Ein Rückzugsort mitten in der Stadt, zwischen Jungfernheide und Westend. Die Idylle wird nur gestört von den riesengroßen Betonpfeilern der Brücke, die aus der Kolonie herausragen. Über den Köpfen der Gärtner steht die Rudolf-Wissell-Brücke, Berlins längste Brücke. Über sie verläuft die Nummer drei der am häufigsten befahrenen Autobahnabschnitte Deutschlands. Die Brücke ist marode. Erst war der Plan, sie grundlegend zu sanieren, jetzt soll sie abgerissen und ersetzt werden, wie seit Donnerstag bekannt ist. Für die Kleingartenkolonie, die in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert, bedeutet das: Gefahr.
„Noch geht’s uns gut“, sagt Ralf Vogt, der vor der Kolonie-Kneipe „Tunnel-Eck“ steht. Die heißt so, weil von dort Tunnel abgehen: der eine Richtung Jungfernheide am Wasser entlang, der andere führt in die Kleingartensiedlung. Aber Vogt wird vermutlich auch nicht betroffen sein, er ist weit genug von der Brücke entfernt. „Noch hat sich niemand bei uns gemeldet“, sagt er. Auch der Kolonievorstand Gaede weiß bisher nichts Konkretes, nur das, was in den Zeitungen stand. Die Gäste des „Tunnel-Ecks“, die meisten auch Pächter, sind entspannt, trinken um 13 Uhr ihr erstes Bier, rauchen Selbstgedrehte. „Wir wissen doch wie das in Berlin mit Baustellen ist“, lacht Vogt.
Michael Gaede ist ein Mann, wie man sich einen leidenschaftlichen Kleingärtner vorstellt: dunkles T-Shirt und Jeans, Gartenschuhe und eine rahmenlose Brille, die sich je nach Helligkeit dunkel tönt. Seit 25 Jahren bewirtschaftet er hier seinen Garten, gemeinsam mit seiner Frau. „Früher waren die Kinder noch dabei, aber die haben jetzt eigene Gärten.“ Die Leidenschaft liegt in der Familie. Der Rentner ist seit mehr als einem Jahr der Vorstand. „Das ist eine 20-Stunden-Woche“, sagt er. Irgendetwas gebe es immer zu ordnen, organisieren, regeln oder klären. Im Garten halten er und seine Frau sogar Hühner, einen Teich mit Fischen gibt es auch. „Wir haben hier jeden Stein selbst gelegt, jeden Baum selbst gepflanzt“, führt er stolz durch sein kleines Paradies. Deswegen schmerze es auch besonders, dass das bald alles nicht mehr sein soll. Die Rede ist von Ausweichflächen und Abfindungen, ein schwacher Trost: „Ein Apfelbaum wächst nicht in drei Monaten“, sagt Gaede. „Und was sollen wir mit einer Ausweichfläche in Brandenburg?“ Seine Frau und er wohnen in Reinickendorf, von dort sind sie in 20 Minuten im Garten.
Michael Gaede achtet darauf, dass sich alle ans Kleingartengesetz halten, seine Frau ist die „Thekendame“, wie er sie nennt. Im kleinen Vereinsheim, das am Eingang der Kolonie steht, schreibt Frau Gaede gerade das Angebot auf die Kreidetafel: Aperol Spritz 3,50 Euro, Waldmeister 1 Euro. „Ist nicht groß hier, aber es reicht“, sagt ihr Mann. Im Winter gibt es hier eine Weihnachtsfeier, nächste Woche wird der Herrentag zelebriert.
Die Bauarbeiten sollen 2023 beginnen
Auch wenn der Baubeginn erst für 2023 geplant ist, so richtig ruhig ist hier niemand mehr. Auf dem Ablaufberg, wie der von der Brücke weiter entfernte Teil der Kolonie genannt wird, liegt die Parzelle von Herrn Erdmann, den Gaede nur „unseren Bienenmann“ nennt. „Hast du schon die Zeitung gelesen?“, ruft dieser, als Gaede vorbeigeht. Ein kurzer Schnack über das Gelesene: „Auch wenn ich weiter weg bin, bin ich nicht beruhigt“, sagt der Bienenmann, „irgendwo müssen ja auch die ganzen Baufahrzeuge hin. Die Brücke fällt nicht einfach in sich zusammen.“ Seit 15 Jahren ist er hier, hat seine Bienen, seinen Garten. Wie die Brücke abgerissen werden soll, ist für die Gärtner bisher das größte Rätsel. „Wenn wir mal einen Baum wegtransportieren lassen müssen, dann braucht das ein halbes Jahr“, sagt Gaede. „Die Bahnstrecke muss dafür gesperrt werden.“ Einen anderen Zugang als den niedrigen Tunnel gibt es nicht, dass dort ein Bagger durchpasst, ist unvorstellbar. Trotzdem wissen alle, dass die Arbeiten unumgänglich sind – und resignieren. „Sollen wir jetzt eine Unterschriftensammlung machen?“, fragt Ralf Vogt vor dem „Tunnel-Eck“, „hilft ja nichts.“ Michael Gaede glaubt dennoch, dass man die Brücken-Sanierung auch anders lösen könnte, aber beschlossen ist eben beschlossen. „Ist wahrscheinlich die günstigste Lösung.“
Auch wenn die Bewohner noch voraussichtlich fünf Jahre haben, bis ihre Gärten dem Bauschutt weichen müssen, stellt sie die Nachricht auch jetzt schon vor Probleme: „Eigentlich wollte ich meinen Garten Ende des Jahres abgeben“, sagt Hans-Jürgen Hückler. Er war lange der Vorstand der Kolonie, hat den Posten aus gesundheitlichen Gründen an Gaede abgegeben. „Aber wer pachtet einen Garten, von dem er weiß, dass der in fünf Jahren weg ist?“ Am Tunnel begegnet Michael Gaede einem alten Ehepaar, auch sie sind Pächter. Er hat schneeweißes Haar, hochgegelt zur Elvis-Tolle, sie trägt ein medizinisches Gerät mit vielen Schläuchen über der Schulter. „Weißte“, sagt der Mann, „in fünf Jahren sind wir doch eh beide tot, wir kriegen davon gar nichts mehr mit.“ Und seine Frau stimmt lachend ein: „Wir liegen dann am Fürstenbrunner Weg und gucken, ob die auch alles richtig machen.“ Am Fürstenbrunner Weg, der Straße, die zum Parkplatz der Kolonie führt, ist ein Friedhof. „Ach, hört doch auf mit eurem Galgenhumor“, sagt Gaede. „Das will niemand hören.“
Die Kleingärtner könnten wütend sein, wütend darüber, dass die Autobahnbrücke ihnen ihr Idyll raubt, aber das sind sie nicht. Sie sind es ohnehin gewohnt, dass Stadtplanung oft auf ihre Kosten geht: „Drei Gärten würden bestimmt 30 Wohnungen ergeben“, sagt Gaede. Dem Wohnungsbau fällt diese Kolonie allerdings nicht zum Opfer, dann eben den Autos. „Man muss sein eigenes Interesse auch manchmal unter das Allgemeinwohl stellen.“ Es ist friedlich, trotz quietschender Ringbahn und den Autos, die über die Brücke fahren. Keine Aufbruchsstimmung, keine Endzeitstimmung. „Morgen ist erst mal Gartenbegehung. Da gucken wir, ob alle sich an die Regeln halten.“ Was für Regeln? „Zu hoch wachsende Hecken zum Beispiel.“
Julia Kopatzki