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Aus den Augen, aus dem Sinn. Spielzeug gehört ins Kinderzimmer - meint zumindest der Autor.
© picture alliance / dpa / Jens Kalaene

Erziehung in Berlin: Kinder raus aus meinem Wohnzimmer!

Überall liegt Spielzeug herum, nur mit Glück findet man einen Platz auf dem Sofa. Warum tun wir uns das an? Wer sein Kind liebt, der schickt es ins Kinderzimmer.

Von Til Knipper

Warum suchen Eltern mit Kindern in Berlin immer noch Altbauwohnungen mit Balkon, Dielen und Parkett, bevorzugt in Mitte, Prenzlauer Berg, Charlottenburg oder Kreuzberg? Zumindest vom Holzfußboden ist schon kurz nach dem Umzug kaum noch etwas zu sehen. Denn im Zeitalter der Helikoptereltern, die in den oben genannten Stadtteilen in besonders hoher Konzentration auftreten, nimmt eine Unart epidemische Ausmaße an: Die ganze Wohnung wird zum Kinderzimmer und überall fliegt Spielzeug herum.

Da werden Schaukeln in der Flügeltür zwischen Ess- und Wohnzimmer aufgehängt. In neongelbem Tape klebt das Straßennetz des eigenen Kiezes in unwesentlich verkleinertem Maßstab auf dem Fußboden. Oder der eigentlich sehr hübsche, gut erhaltene Kachelofen in der herrschaftlichen Beletage- Wohnung verschwindet fast komplett hinter einem überdimensionalen Papphaus.

Sie finden, dass ich übertreibe, und sind sich sicher, dass ich ein kinderloser, frustrierter, unfruchtbarer Single bin? Ich muss Sie enttäuschen, die oben genannten Beispiele stammen alle aus meinem persönlichen Freundes- und Bekanntenkreis, und ich wohne mit meiner Frau und unseren zwei kleinen Söhnen in einem Altbau.

Warum schmeißen wir Erwachsenenbedürfnisse aus dem Fenster?

Aber warum tun wir uns das an? Warum schmeißen wir elementarste Bedürfnisse des Erwachsenenlebens – ein Raum für sich, Ruhe zum Gespräch – komplett aus unseren Original-Gründerzeit-Doppelfenstern? Wir? Ja, ich bekenne mich schuldig, das gelbe Straßennetz klebt bei mir zu Hause auf meinen Dielen. Und ich hasse mich dafür!

Wir müssen das ändern, liebe Eltern. Erziehen ist anstrengend, Bequemlichkeit darf keine Ausrede sein. Es ist doch schon schlimm genug, dass man in jedem Haushalt mit Kind inzwischen seine Schuhe ausziehen muss, um dann hochkonzentriert einen Slalom um Spielgeräte zu absolvieren. Mit Glück findet man einen Platz auf dem Sofa, wenn dessen Kissen nicht gerade zur Errichtung einer Höhle zweckentfremdet werden.

Und da haben wir über die volkswirtschaftlichen Schäden durch Arbeitsausfall und die Kosten für das Gesundheitssystem noch gar nicht geredet: wenn nachts auf dem Weg zum schreienden Kind herumliegende Legosteine Sprunggelenke umknicken lassen oder ein Ausrutschen auf der Holzbanane aus dem Kaufladen das neu eingebaute Hüftgelenk luxiert – Jungväter sind heute immer älter.

Visuelle Körperverletzung für 9,95 Euro pro Quadratmeter

Wenn wir diesen Wahnsinn weiter zulassen, was ist dann bitte die nächste Eskalationsstufe? Den Spielteppich mit Straßenzügen, Kreuzungen, Ampeln, Kreisverkehr und Tankstelle in der ganzen Wohnung verlegen? Diese visuelle Körperverletzung gibt es schon für 9,95 Euro den Quadratmeter, macht etwa 1500 Euro für die Vierzimmerwohnung.

Aufhören! Und nein, es wird auch nicht die oft von Eltern angeführte Begründung akzeptiert, so habe man die Kinder besser im Blick. Gemeint ist doch: So können wir sie besser kontrollieren und sofort einschreiten, wenn Gefahr droht. Schluss mit der Dauerüberwachung. Wer so argumentiert, trägt wahrscheinlich beim Spazierengehen Fahrradhelm. Auch Kinder haben ein Recht auf Privatsphäre, brauchen Rückzugsorte, an denen sie nicht ständig unter Beobachtung stehen. Wo sie alleine oder mit ihren Geschwistern und Freunden spielen können. Sie müssen lernen, Konflikte auszutragen, Risiken einzugehen, Gefahren abzuschätzen. In den USA hat sich aus dieser Einsicht schon die Playborhood-Bewegung gegründet, die dafür sorgen will, dass Kinder wieder mehr Orte haben, an denen sie sich ungestört von Erwachsenen in ihrer Nachbarschaft treffen können.

Til Knipper arbeitet im Meinungs-Ressort des Tagesspiegels.
Til Knipper arbeitet im Meinungs-Ressort des Tagesspiegels.
© Doris Spiekermann-Klaas

Ich gehe mit gutem Beispiel voran. Das neongelbe Straßennetz wird noch heute Abend aus dem Wohnzimmer verschwinden. Ich will schließlich nicht, dass meine Söhne mir gegenüber irgendwann Jean-Jacques Rousseau zitieren: „Viele Kinder haben schwer erziehbare Eltern.“ Dann schon lieber Doris Day: „Falten sind erblich. Eltern kriegen sie von ihren Kindern.“

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