Alleinerziehende in Berlin: Kein Vater, Mutter, Kind
Die Statistik sagt: In einem Drittel der Berliner Familien kümmert sich nur ein Erwachsener um die Kinder. Aber was bedeutet es wirklich, alleinerziehend zu sein? Wir haben zwei sehr unterschiedliche Frauen einen Sommer lang begleitet.
Johanna sagt, an guten Tagen sei sie eine Kämpferin. Und an schlechten einfach nur total fertig. Der Tag heute gehört eher zur zweiten Kategorie. Johanna ist wütend, bis zum Anschlag. Der Vater ihrer Tochter Klara, sechs Jahre, ist nicht zur verabredeten Zeit aufgetaucht. Eigentlich sollte er an diesem Sonntagnachmittag bei Johanna in Pankow vor der Tür stehen. Ankommen wird er schließlich zwei Tage später, Dienstag, 16 Uhr. Längst hat Johanna aufgehört zu zählen, wie viele Stunden sie schon auf Klaras Vater gewartet hat. Stattdessen besorgt sie sich jetzt einen Eimer Farbe und streicht ihre Wohnungstür von innen komplett orange. Frust-Painting, so nennt sie das.
Tanja sagt, anstrengend sei als Alleinerziehende eigentlich alles. Und zwar immer. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag. Keine Pause, nie. Immer laste die Verantwortung für ihren Sohn Mattes, vier, und ihre Tochter Melanie, anderthalb, komplett auf ihr. Der Vater der beiden sitzt im Knast. Tanja weiß nicht mal genau, wo, sie weiß nur, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Sie will auch nicht, dass er sie in diesem Text erkennt, weswegen sie und ihre Kinder hier einen anderen Namen tragen als im echten Leben. Tanja nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Eigentlich hat sie sowieso keine Zeit, über ihren Ex nachzudenken. Tanja hat andere Probleme. Zum Beispiel, ihrem Leben und dem ihrer Kinder endlich eine Richtung zu geben.
90 Prozent der Alleinerziehenden sind weiblich
Johanna und Tanja, zwei Frauen aus Berlin, die vieles trennt. Die eine ist 30 Jahre alt, lebt in Pankow, hat studiert, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Lehrtätigkeit an der Universität Frankfurt/Oder, Kulturwissenschaftliche Fakultät, schreibt ihre Doktorarbeit, vielleicht macht sie sich als Dozentin selbstständig. Die andere ist 21 Jahre alt, lebt in Marzahn, hat nicht studiert, keine Ausbildung absolviert, nur den Hauptschulabschluss neunte Klasse, und lebt von Hartz IV.
Johanna und Tanja kennen sich nicht, sie haben sich noch nie gesehen. Es ist unwahrscheinlich, dass ihre Lebenswege sich jemals kreuzen werden. Und doch verbindet die beiden ein Lebensumstand, er nennt sich: alleinerziehend. Damit zählen sie zu jener Gruppe von Personen, die sich ganz oder hauptsächlich ohne Partner um den eigenen Nachwuchs kümmern. In Berlin ist das in 36 Prozent aller Familien der Fall – das ist mehr als ein Drittel. Und mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. Berlin die Hauptstadt der Alleinerziehenden. Am häufigsten leben sie in Pankow, Mitte und Marzahn-Hellersdorf, sagt die Statistik. In 90 Prozent aller Fälle sind Alleinerziehende weiblich, ihr Armutsrisiko ist besonders hoch. 2008 bezogen fast 40 Prozent der alleinerziehenden Mütter in Berlin Hartz IV.
Das sind die Zahlen, sie sind beunruhigend. Aber wie geht es den Frauen tatsächlich? Mit welchen Problemen haben sie zu kämpfen? Um das herauszufinden, haben wir Johanna und Tanja über drei Monate hinweg begleitet, haben ihre Leben kennen gelernt. Einen ganzen Sommer lang.
Jule hilft, das Leben zu strukturieren
Die Recherche beginnt an einem Juninachmittag in Marzahn-Hellersdorf. Tanja sitzt in einem der Gemeinschaftsräume des Sozialprojekts Jule, weiße Sessel, viel Licht, im Nebenzimmer rast Sohn Mattes mit seinem Dreirad hin und her, Tochter Melissa hängt auf dem Schoß der Mutter, die Augen noch klein vom Mittagsschlaf. Alles an Tanja wirkt üppig: die fülligen Glieder, das Pausbacken-Gesicht, der dicke, halb lange Pferdeschwanz, der große Busen und die mit Strass verzierten Nägel. Da ist auch viel Zuversicht: Tanja will, dass ihr Leben nun endlich richtig losgeht, deswegen hat sie sich bei Jule beworben.
Erst vor zwei Wochen ist sie hergezogen. Jule, das Modellprojekt, einzigartig in Berlin und im ganzen Land, richtet sich an junge Alleinerziehende, die sich Hilfe holen wollen, zum Beispiel, um endlich eine Ausbildung zu beginnen. Diejenigen, die herkommen, haben oft keinen Schulabschluss und leben von Hartz IV. Das Konzept: Die Teilnehmer beziehen eine eigene Wohnung, doch leben gemeinsam in einem Haus. „Alleinerziehend, aber nicht allein“, so das Motto.
Im Erdgeschoss liegen die Gemeinschaftsräume: Küche, Bällebad, Tobezimmer, Büro. Hier sitzen auch die Sozialarbeiterinnen, die den jungen Frauen helfen, ihr neues Leben besser zu strukturieren – alleinerziehende Väter verirren sich nur selten ins Projekt. „Betreutes Wohnen mit individuellem Coaching“ soll es sein, so die Homepage. „Sie sollen bei uns lernen, selbstständiger zu sein“, so sagt es Astrid Egel, eine der beiden Sozialarbeiterinnen. „Die, die sich bei uns bewerben, sind in der Regel schon sehr motiviert – sonst würden sie sich gar nicht melden.“ Drei Mütter zogen zum Start im Mai 2012 in die neuen Wohnungen. Mittlerweile sind es 13, „ging wie Brötchenbacken“, sagt Frau Egel, „eine nach der nächsten.“
Tanja ist in den neunten Stock gezogen, 64 Quadratmeter, drei Zimmer, Küche, Bad. Vom Balkon aus kann man die Bäume und Häuser von Ahrensfelde sehen, ansonsten Platte, Platte und wieder Platte. Tanjas Wohnung wirkt spärlich, es fehlt noch viel. Sie selbst schläft auf dem Sofa im Wohnzimmer, weil sie noch kein Bett hat. Aber Tanja freut sich trotzdem. Für 540 Euro warm hat sie hier zum ersten Mal in ihrem Leben ein eigenes Zuhause für sich und die Kinder, die Miete zahlt das Jobcenter. Jetzt sitzt sie mit Astrid Egel und ihrer vorigen Sozialarbeiterin, Frau Zimmermann, unten in einem der Gemeinschaftsräume. „Zur Übergabe“, sagt Frau Egel knapp, „hört sich blöd an, ist nicht so gemeint.“
„So schöne Löckchen hast du!“, sagt Frau Zimmermann zu Melanie, die auf Tanjas Schoß rumrutscht und quengelt, „aber der Mattes kommt ja total nach dem Papa!“
„Na, wollen wir mal hoffen, dass es beim Äußeren bleibt“, sagt Frau Egel, die meistens berlinert, in der Zeitung lieber nicht ihr Alter lesen will und ihren Blick jetzt schnell in die Kaffeetasse senkt, eine Augenbraue leicht nach oben gezogen. Astrid Egel ist so etwas wie eine Ersatzmutter, auch wenn sie das nicht gern hört. Tanja schreibt ihr Whatsapp-Nachrichten, wenn sie ein Problem hat. Dann ist Frau Egel da. Sie ist kein Ausbund an Herzlichkeit, eher Typ Berliner Schnauze. Außen hart, innen weich. Sie strahlt eine sanfte Strenge aus, die auf den ersten Blick gar nicht erahnen lässt, wie sehr sich die Sozialarbeiterin kümmert.
"Ick hab ’n jutes Gefühl. Ich hoffe bloß, das wird so bleiben."
„Hat denn alles geklappt mit dem Umzug?“, fragt Frau Zimmermann.
„Ja“, sagt Tanja. „Hab nur ein bisschen Ärger mit dem Unterhaltsvorschuss.“ Ihr Ex will nicht zahlen, keinen Cent. Seit September 2013 haben die beiden keinen Kontakt mehr.
„Und die Kündigung der alten Wohnung?“
Tanja sagt nichts, schüttelt energisch den Kopf.
„Also alles wie immer? An der Kiste hängen wir jetzt ja schon fast ’n Jahr!“ Frau Zimmermann verdreht die Augen. Die alte Wohnung, Tanjas großes Problem: Sie kommt nicht aus dem Mietvertrag raus, dazu müsste auch ihr Ex-Partner die Kündigung unterschreiben. Aber der weigert sich. Solange er nicht unterschreibt, muss Tanja theoretisch weiterhin die Miete zahlen. Für sie bedeutet das: Mietschulden, Räumungskosten, eventuell noch einmal Renovierungskosten; obwohl die Wohnung leer steht. „Ist leider ein typisches Problem bei ganz vielen alleinerziehenden Müttern“, wird Frau Zimmermann später sagen.
„Aber sonst läuft ja allet klasse“, sagt Frau Egel.
„Schön“, antwortet Frau Zimmermann „was sind die nächsten Schritte?“
Frau Egel holt tief Luft, dann rattert sie los: „Strom haben wir angemeldet, Versicherung auch. Antrag auf Erstausstattung für die Wohnung läuft, wenn alle Stricke reißen, können wir da noch einen Stiftungsantrag bei der Stiftung für Familie stellen. Herd ist angeschlossen, Küche steht, die Kinder haben was zum Schlafen, das ist erst mal das Wichtigste. Danach: Die Kinder müssen in die Kita, ab erstem August.“ Frau Egel geht weiter den Plan für Tanja durch, „im Moment warten wir noch auf einen Termin für den psychologischen Test beim Jobcenter.“ Den braucht Tanja, damit sie im Herbst ihre Berufsvorbereitung beginnen kann.
Ihr Weg zu einem selbstständigen Leben ist ein Papierkrieg, eine Ansammlung aus Bewilligungen und Behördenterminen. „Dann ab September Berufsvorbereitung, wenn alles klappt“, schließt Frau Egel, zieht einmal die Luft tief ein, macht die Augen weit und guckt in die Runde. Sie weiß: Es ist ein ehrgeiziger Plan.
Frau Zimmermann nickt, Tanja sieht entschlossen aus.
„Tanja hat sich gut und schnell eingelebt“, sagt Frau Egel. „Ick hab ’n jutes Gefühl. Ich hoffe bloß, das wird so bleiben.“
„Die Kita und dann Berufsvorbereitung, das wird allerdings hart“, schiebt Frau Egel hinterher. Pause. Seufzer. „Riesenumstellung“, sagt sie.
Tanja lächelt und sagt: „Egal. Ich pack das. Ich freu mich, dass es endlich losgeht.“
"Ich kann gut planen und hab alles im Griff"
Ein paar Tage später, in Pankow. Johanna – blond, asymmetrischer Kurzhaarschnitt, schwarze Brille – steht in der Küche und kocht Maultaschen. Tochter Klara, ein zartes Mädchen mit großen Augen und schiefen Milchzähnen, sitzt vor dem Laptop im vollgepackten Wohn-Arbeitszimmer und spielt „Kikaninchen“, ein Online-Lernspiel für Vorschulkinder. Johannas Wohnung ist bunt und ein bisschen chaotisch, Typ Studentenbude, überall hängen Bilder von ihr und Klara. Johanna ist müde, den ganzen Tag war sie in Neukölln, dort hat sie sich den Sommer über in einem Büro eingemietet, um strukturierter an ihrer Dissertation arbeiten zu können, ihre Professorin sitzt ihr im Nacken.
Ansonsten aber könnte es für Johanna im Job gerade nicht besser laufen: Sie hat eine Vollzeitstelle, die sie sich oft selbst einteilen kann. Rund 3300 Euro verdient Johanna jetzt brutto, „Wahnsinn“, sagt sie. Aber sie hat hart dafür gekämpft: Ihr Studium der Interkulturellen Europa- und Amerikastudien plus Master durchgezogen trotz Kind, Praktika absolviert, über 100 Bewerbungen geschrieben und über 100 Absagen kassiert, bevor sie den Vertrag für die Stelle an der Uni Frankfurt/Oder unterschreiben konnte. Mehrere Jahre hat auch sie Hartz IV bezogen, erst vor einigen Monaten ist der Bewilligungszeitraum ausgelaufen. Nie mehr will sie auf Geld vom Staat angewiesen sein. „Daran gewöhnt man sich nie“, sagt Johanna jetzt, „das ist einfach ätzend.“
Einmal sagt eine Sachbearbeiterin im Jobcenter zu ihr: „Wenn sie doch wenigstens einen Mann hätten!“ Johanna kann sich noch immer darüber aufregen, wenn sie heute davon erzählt. Doch es ist nicht die einzige Situation, in der die junge Mutter sich stigmatisiert fühlt. „Die Jobsuche war der Horror“, erinnert sie sich, „ich bin mir sicher, dass ich da zu manchen Gesprächen erst gar nicht eingeladen wurde, nur weil da auf dem Bewerbungsbogen stand: „ledig und alleinerziehend“.
Ohne ihre Eltern, Freunde, Kita würde Johanna es nicht schaffen
Doch Johanna will nicht jammern, es liegt ihr nicht. „Dieses ganze Gemotze, was man manchmal von anderen Eltern hört, das ist so anstrengend!“, sagt sie. Johanna will selbstständig sein, unbedingt. Sie mag es nicht, von anderen abhängig zu sein – und ist es doch. Ständig. Ohne ihr sorgfältig gestricktes Netz bestehend aus den eigenen Eltern, befreundeten Müttern, zwei Babysitterinnen, der Kita und ihrem Ex-Freund, der nicht Klaras Vater ist, könnte sie ihren Alltag gar nicht bewältigen. Auf den Vater ihrer Tochter verlässt sie sich lieber nicht allzu sehr. Der sieht Klara zwar mittlerweile alle drei bis vier Wochen, dann kommt er von Halle nach Berlin. „Wenn er da ist, verstehen wir uns schon gut“, sagt Johanna. Aber Klaras Vater sei halt ein „Wochenend-Papa, der ist einfach verpeilt.“ Meistens komme er zu spät, manchmal auch gar nicht, genauso wie der Unterhalt. „Ich habe bei ihm eigentlich immer einen Plan B in der Tasche, wenn nicht sogar einen Plan C.“ Aufregen will Johanna sich mittlerweile nicht mehr. Und mit der „Kleinfamiliennummer“, wie sie es nennt, sei sie sowieso durch. Sie und Klara, das ist die Familie – ohne Defizit. So versucht sie es der Tochter zu vermitteln. „Klara hat eben ein anderes Vaterbild. Für sie ist das normal“, sagt Johanna.
Unbestritten aber bleibt: Das Leben allein mit einem Kind oder gar mehreren ist ein Balanceakt. Eine Hetze zwischen Orten, Zeiten, Vereinbarungen, noch mehr als sie jedes Elternpaar kennt. Ein ganz normaler Tag wird mit Klaras Einschulung ab August so aussehen: aufstehen um 6 Uhr, anziehen, Frühstück für Klara, Cornflakes mit Soja-Milch, Schule um 7.45 Uhr. Johanna wird dann mit dem Rad zum S-Bahnhof Pankow rasen, dort in die U2, umsteigen am Alex, RE 1 nach Frankfurt/Oder, auf dem Weg zwei Kaffee to go, gegen 9.40 Uhr wird sie ihr Büro in Frankfurt/Oder aufschließen. Klara wird bis 17 Uhr im Hort bleiben, fast zur gleichen Zeit wird die Mutter ihr Büro wieder zuschließen, zurück in den Zug nach Berlin. Dort wird sie gegen 20 Uhr ankommen, so lange passt eine der Babysitterinnen auf Klara auf. Zähne putzen und Schlafanzug macht sie schon allein, mehr als der Gute-Nacht-Kuss und eine Geschichte zum Vorlesen bleibt Mutter und Tochter an gemeinsamer Zeit unter der Woche nicht, wenn Johanna nach Frankfurt pendelt.
Immer auf 180 - sonst geht es nicht
Danach müsste Johanna aufräumen, „aber das steht nicht sehr weit auf meiner Prioritätenliste“, gibt sie zu. Entweder bastelt sie abends an ihrem Blog, muss noch eine Vorlesung vorbereiten oder lädt Freunde zu sich nach Hause ein. Oft aber läuft nur noch „das Berieselungsprogramm mit Serie auf der Couch“, sagt Johanna. Und sie schiebt noch hinterher: „Ich kann gut planen und hab’ alles im Griff.“ Bloß nicht jammern.
Die Frage allerdings ist: Was würde passieren, ließe sie die straff gehaltenen Zügel einmal locker? Eine Freundin von ihr, alleinerziehende Mutter von drei Kindern, hat kürzlich zu Johanna gesagt: „Ich drehe auf 180 und da muss ich auch bleiben – sonst gehe ich unter.“
Jetzt muss Johanna sich beeilen, sonst kommt sie zu spät zur Elternvorbesprechung, die Babysitterin muss jeden Moment da sein. Bald wird Klara ein Schulkind sein; der pinkfarbene Ranzen steht schon im Kinderzimmer. Klara wird auf die Wolkensteinschule gehen, gleich ums Eck, Tür raus, links, geradeaus, wieder links. „Sie kann dann mit anderen Kindern aus unserem Haus zusammen gehen“, sagt Johanna. Die Mutter hätte Klara gern auf eine andere Schule geschickt, weniger Frontalunterricht, demokratischer organisiert, Montessori vielleicht, „aber ich hab mir erst gar nichts anderes angeguckt, so ist es am praktischsten.“
Johanna streift das schwarze Sakko zur Jeans über. „Klari, ich geh dann jetzt!“, sagt sie. Die zeigt sich unbeeindruckt und vertieft sich weiter in ihr Tinkerbell-Poster. Noch schnell drücken, Küsschen, dann nickt Johanna der Babysitterin zu, ruft „Viel Spaß“ und zieht die Tür hinter sich zu.
Zwei Kinder gegen eine Erwachsene
Tanja, die alleinerziehende Mutter aus Marzahn, wird froh sein, wenn sie später einmal einen Ausbildungsplatz bekommt. Ein fester Job, eine eigene Wohnung, ein sicheres Gehalt. Und ein einziges Mal shoppen gehen mit der besten Freundin, ohne aufs Geld schauen zu müssen. Nicht für die Kinder, nur für sich selbst. So sehen Tanjas Träume aus.
Sie würde später gern „was Handwerkliches“ machen, aber es wird nicht leicht für sie sein, ihrem Alltag eine Routine zu geben. Sie wird kämpfen müssen, jeden Tag. Mattes und Melanie haben noch nie eine Kita von innen gesehen, sie kennen keinen geregelten Tagesrhythmus. „Ich hab damals immer angestrebt, zurück auf die Schule zu gehen“, sagt Tanja heute, „aber allein war das irgendwie unerreichbar.“ Von ihrem Ex-Partner gab es keine Unterstützung. „Der wollte, dass ich zu Hause bleibe und mich kümmere, dabei hat der den ganzen Tag in der Wohnung gehockt“, sagt Tanja. Ihre frühere Sozialarbeiterin, Frau Zimmermann, beschreibt Mattes’ und Melanies Vater als ein „ganzes Paket aus Konflikten“. Mehr will auch Tanja nicht sagen. Nur, dass sie es irgendwann nicht mehr ausgehalten habe. Im September 2013 packt sie ihre Koffer, schnappt sich die Kinder, zieht zurück zu ihrer Mutter nach Brandenburg. Über die Caritas erfährt sie vom Jule-Projekt, bewirbt sich – und bekommt den Platz.
Für zwei Tage das Muttersein ablegen, nichts organisieren müssen, nicht kämpfen
Es ist Juli, Sommer in Berlin. Schwüle Luft, Gewitter am Abend. Seit Tagen schon. Die Hitze macht müde, Urlaubszeit. Johanna sitzt in ihrem Büro in Neukölln, allein. Es ist vorlesungsfreie Zeit, aber sie arbeitet, an einem Buchbeitrag: „Eine Fallstudie zur Kreativwirtschaft Berlins, Schwerpunkt Coworking“. Sie hätte mit dem Essay noch Zeit bis September, „aber ich wollte das jetzt weghaben“. Entspannt ist sie trotzdem: Johanna hat kinderfrei. Klara ist noch bis zum nächsten Morgen mit ihrem Vater im Paddelurlaub in Bayern, davor war sie eine Woche im Zeltlager. Johanna hat Klara am Bus abgegeben, danach ist sie zu ihrem eigenen Vater nach Frankfurt/Oder weitergefahren. Drei Tage abhängen, ausschlafen, nichts tun, abends Havanna-Bar und Caipirinha für 3,50 Euro. Ein einziges Mal hat Johanna in der vergangenen Woche mit Klara telefoniert. „Ich bin über einen Fluss geschwommen!“, sagt die Tochter ins Handy, „es ist schön hier!“ Kein „Mama, ich vermisse dich“, kein „Ich habe Heimweh.“ Klara ist selbstständig, so hat Johanna sie von Anfang an erzogen.
Wenn Klaras Vater die Tochter morgen früh wieder bei Johanna absetzen wird, werden beide zu den Großeltern fahren; eine Woche Ferien für Klara bei Oma und Opa. Johanna selbst wird sofort weiterreisen, sie hat Karten für ein Indie-Festival in Friedland. Eine Freundin aus Hamburg wird dabei sein, ein Freund aus Halle. Noch einmal wird Johanna für zwei Tage das Muttersein ablegen. Nichts organisieren müssen, nicht mehr kämpfen. Loslassen. Wenigstens für kurze Zeit.
Am anderen Ende der Stadt schwitzt auch Tanja mit ihren Kindern, sie wirkt schlapp. Mattes hat sich in der vergangenen Nacht übergeben müssen, er und seine Mutter haben beide wenig geschlafen. Überhaupt sei der Sohn momentan anstrengend, sagt Tanja, „der testet seine Grenzen und kennt grade nur ,Nein, Nein, Nein!‘“ Immer Grenzen setzen, immer Paroli bieten, zwei Kinder gegen eine Erwachsene; manchmal ist Tanja alles zu viel. Dann bespricht sie sich mit einer Erziehungsberaterin, die regelmäßig ins Projekt kommt.
Ansonsten aber ist Tanja guter Dinge, endlich passiert etwas in ihrem Leben: Sie hat Betreuungsplätze für Mattes und Melanie gefunden, die Kita liegt sogar in Marzahn, einmal über die S-Bahn-Gleise. „Das ist so ’ne schöne Kita!“, schwärmt Frau Egel. Der Prüfdienst vom Jobcenter war endlich da, wegen der Möbel, die noch immer fehlen in Tanjas Wohnung. Ein großes Bett für Mattes, eines für sie selbst. Und in der vergangenen Woche hat Tanja ihren psychologischen Test absolviert, der darüber entscheiden soll, ob sie eine normale Berufsvorbereitung besuchen kann oder eine intensivere, sogenannte Reha-Vorbereitung. Tanja musste extra nach Kreuzberg fahren, da ist sie sonst nie. Ihr jetziger Freund hat während des Termins auf die Kinder aufgepasst. Wenn Tanja wichtige Termine hat, übernimmt er die Kinder manchmal, hilft ihr morgens beim Anziehen der Kinder und abends beim Zubettgehen. Am besten findet Tanja an ihm, „dass er immer da ist, wenn ich ein Problem habe“. Seit knapp einem Jahr sind die beiden ein Paar.
Stille auf dem Flur. Drinnen wird über Tanjas Zukunft verhandelt
Im Jobcenter in Kreuzberg hat eine Psychologin ihr Fragen gestellt: Was ist dein Wunschberuf? Wo soll es hingehen? Wie schätzt du dich ein? Danke, raus auf den Flur, warten. Danach Test am Computer: Deutsch, Mathe, Diktat, Rechenaufgaben. Wieder Warten. So ging das, von 8.15 bis 14.30 Uhr. Es war stressig für Tanja, sie hofft, dass alles gut gelaufen ist. Aber sie ist Optimistin. Und will unbedingt alles schaffen. Deswegen lächelt sie jetzt, formt Zeigefinger und Daumen zu einem schmalen Spalt, kneift die Augen zusammen und sagt: „Und das ist ja alles nur ein bisschen von dem, was noch kommen wird.“
Einige Wochen später sieht alles ganz anders aus. Es ist Anfang August, morgens acht Uhr. Der Himmel strahlt blau über dem Job-Center Marzahn-Hellersdorf, Frau Egel ist schon da und wartet draußen vorm Haupteingang. Tanja trägt pink, „Music is my life“ prangt es in fetten Lettern auf ihrem Shirt. Ihr Freund hütet die Kinder, während Tanja ein entscheidender Termin bevorsteht. Aber sie ist nicht nervös. „Nö, ich war ja schon öfter hier“, sagt sie. Noch schnell eine rauchen, dann rein, rechts den Flur runter, geradeaus, links, hoch in den ersten Stock, Raum 154.
Anklopfen, Tür auf, eintreten, Tür zu. Stille auf dem Flur. Drinnen wird über Tanjas Zukunft verhandelt: Heute erfährt sie das Ergebnis ihres psychologischen Tests.
Nach zwanzig Minuten geht die wieder Tür auf, Tanja sagt kein Wort. Sie weicht dem Blick aus, Frau Egel sagt auch nichts. Raus, bloß raus hier, an die frische Luft, Zigarette. Es ist nicht gut gelaufen. Tanja nimmt einen tiefen Zug, Tränen stehen ihr in den Augen. „War scheiße“, sagt sie leise, „hatte ich so nicht erwartet.“ Mehr sagt sie nicht. Auch Frau Egel wirkt mitgenommen, aber sie erklärt in ruhigem Ton: „Die haben ihr eine Lese-Rechenschwäche attestiert, jetzt kann Tanja keine normale Berufsvorbereitung machen, sondern muss in die Reha-Vorbereitung.“ Blick zu Tanja, die zitternd an der Kippe zieht. Frau Egel steckt sich auch eine an. „Dit is aber gar nich schlimm“, sagt sie sachte zu Tanja. „Dit heißt nur, dass da statt 30 Leuten 15 in einer Klasse sitzen und du intensiver betreut wirst. Dit kriegen wir doch hin.“ Doch sie weiß: Einfacher wird es für Tanja mit dieser Diagnose nicht. Die intensivere Berufsvorbereitung findet nicht in Marzahn statt, sondern in Kreuzberg, was für Tanja einen großen logistischen Aufwand bedeuten würde. Und es ist fraglich, wie schnell sie einen Platz bekommen wird. Die Sachbearbeiterin hat einen Antrag auf Dringlichkeit gestellt.
Tanja drückt ihre Kippe aus, sagt noch immer nichts. Sie muss weiter, nächster Termin: Eingewöhnung der Kinder in der Kita. „Wir sehen uns nachher?“, fragt Frau Egel. Tanja nickt und macht sich auf den Weg zur Tram. Frau Egel schaut ihr hinterher. „Es tut mir so leid für sie“, sagt sie leise. Für einen kleinen Moment wirkt es so, als würde auch die Sozialarbeiterin, die sonst immer stark ist, kurz die Fassung verlieren. „Fühlt sich für sie an wie ein riesiger Rückschlag. Ich hoffe, sie verkraftet das gut.“
Der erste Schultag, der erste Kita-Tag
1. September. Wer jetzt morgens aus der Haustür tritt, dem schlägt kühle Luft entgegen – auf einmal ist es Herbst. In Pankow öffnet sich eine Wohnungstür, es ist morgens 7.15 Uhr. Klara trägt ein knallgelbes, viel zu großes T-Shirt, in dessen Mitte eine lachende Sonne prangt. „Wolkenstein“ steht darauf, der Name ihrer Schule – heute ist Klaras erster richtiger Schultag. „Ich freu mich schon so!“ , sagt sie und springt Richtung Wohnzimmer. Zum Einschulungsfest am Samstag war auch ihr Vater da, „direkt aus Tadschikistan ist der gekommen, mit einem großen Rucksack“, sagt Klara. Dort war er wandern, die Tochter hat als Mitbringsel glitzernde Pantoffeln bekommen, die sie noch schnell präsentiert. Das ganze Wochenende ist er geblieben, hat in Klaras Zimmer unter deren Hochbett geschlafen. „Das war richtig entspannt“, sagt Johanna, „wenn er dann mal da ist, verstehen wir uns ja schon gut.“ Klara setzt nach: „Gestern waren wir nur zu Hause und gar nicht draußen, ich hatte den ganzen Tag meinen Schlafanzug an!“
Dann ist es Zeit zum Aufbruch. Klara zieht ihren Ranzen auf, der bunte Blümchen-Hut muss auch mit. Auf dem Weg zur Schule lässt ihre Mutter sie an den Kreuzungen vorlaufen; nur noch diese Woche wird sie die Tochter morgens in die Schule bringen, danach muss Klara den 500 Meter langen Weg allein schaffen. Das Mädchen steht jetzt an einer großen Kreuzung, ihre Füße bleiben auf dem Bordstein, mit dem Oberkörper beugt sie sich nach vorn, sie kann kaum an dem parkenden Auto vorbeischauen. Sie guckt lange nach rechts, „hast du auch nach links geguckt?“, erinnert Johanna sie. Klara schaut links, dann trippelt sie auf ihren Streichholzbeinchen über die Straße.
"Keine Probleme, alles gut"
In Marzahn ist Tanja einige Tage vorher dabei, Mattes und Melanie in die Kita einzugewöhnen. Ein paar Mal schon waren sie für ein paar Stunden dort. Die kleine Familie steht an der S-Bahn-Station, Melanie ist noch müde und trödelt, Mattes hingegen springt aufgeregt hin und her, „ich gehe jetzt in die Kita!“, sagt er stolz. „Er liebt die Kita“, sagt Tanja, sichtlich erleichtert, „keine Probleme. Alles gut.“ Auch sonst gibt es positive Neuigkeiten: Sie muss nun doch nicht in die Reha-Berufsvorbereitung, sondern kann eine normale in Marzahn besuchen. Frau Egel hat ihren Fall noch einmal prüfen lassen. „Hab’ ich doch gewusst, dass ich das nicht brauche“, sagt Tanja, Triumph in der Stimme. Ende September wird es losgehen.
Melanie trödelt immer noch, „Mama, Arm!“, quengelt sie. Von der Treppe der Fußgängerbrücke biegt Tanja auf einen Pfad ein, er führt über eine Wiese, durch Sträucher und Bäume. Deren Grün verschluckt die Gleise, den Lärm der Züge, die Aussicht auf die Plattenbauten. Nach etwa hundert Metern erscheint links das große Kita-Tor. Das Gelände dahinter wirkt wie eine neue Welt, die gar nicht mehr in Marzahn liegt: offen, bunt, weitläufig. Tanja öffnet das Tor und tritt mit Mattes und Melanie hindurch. Es ist ihr Anfang.
Hier geht es zu einer Übersicht zu Angeboten für Alleinerziehende in Berlin.
Dieser Text ist in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.
Esther Göbel