Berlin: Kathi Brehmer (Geb. 1965)
Ihr Reich war die Straße. Dort war sie immer die Queen
Bei Hitze schwellen ihre Beine an, die Haut unter den dicken Verbänden juckt in der Sonne. In eisigen Wintern zieht sie sich an der Krücke vorwärts. Manchmal platzt der Beutel des Katheters, den sie in ihrer Handtasche versteckt. Dann ergießt sich Urin auf die Jebensstraße hinterm Bahnhof Zoo.
Sie fühlte sich sauwohl. Sie war schließlich die Queen.
2013, Adventskonzert mit Gunter Gabriel in der Berliner Bahnhofsmission, Kathi Brehmer, rot-graue Haarsträhnen, ein Kinn mit Kanten, sitzt in der ersten Reihe, ihr Oberkörper wankt. Sie hört nicht lang zu. „Hey Boss, ich brauch mehr Geld“, schreit sie heiser. Gabriels eigene Zeile. Der blickt sie an, greift in sein Portemonnaie: „Nimm alles – aber glaub mal bitte nicht, dass das glücklich macht“, sagt er.
Kathi weiß das. Sie hat ein bisschen mehr Geld als die anderen, mit denen sie in der S-Bahn schnorrt und in der Bahnhofshalle trinkt. Mehr Geld als kein Geld. 890 Euro Erwerbsunfähigenrente. Wenn sich ihr Konto füllt, kauft Kathi Brehmer einen guten Whisky, lädt das Smartphone auf, spendiert ein paar Runden bei Ullrich.
Sind ja Freunde, sind auch Beschützer. Die braucht eine Frau auf der Straße. Oder jemanden wie Kathi: Wenn betrunkene Männer naiven Frauen zu nah kommen, schlägt sie ihnen die Krücke zwischen die Beine. Verteidigt ihr Reich.
Auf dem Adventskonzert schauen jetzt alle auf Kathi. Ziel erreicht. Darum schreit sie weiter. 5000 verschiedene Gäste kommen im Jahr zur Bahnhofsmission. Katheter-Kathi – unvergessen. Ist auch besser so. Die Queen wird gern erkannt. Sonst gibt’s eben Streit, dafür hat sie noch immer Zeit. Einmal flippt sie aus, weil ein Gerichtsverfahren gegen sie eingestellt wird. „Wie, die wollen meine Verteidigung nicht mal hören?“
Wieder spricht Gabriel sie an: „Pass auf, meine Kleine, wenn du jetzt nicht die Klappe hältst, hau ich dir eine rein.“ Stille. Kathi schwenkt ein Feuerzeug zu Gabriels Melodien.
Mit fünf sitzt Kathi bei ihrem Vater in der Küche. Er trinkt ein Bier. Als sie ihren Finger hineinsteckt und „lecker“ sagt, bietet er ihr ein Glas an.
Das erzählte sie. Das war Kathis Geschichte. Eine Geschichte – ihre Wahrheit.
Mit 13, und das ist wohl mehr als eine Erzählung, zieht Kathi das erste Mal auf die Straße. Später macht sie das Abitur, bricht ein Medizinstudium ab. Wird Busfahrerin. Sieht Europa. Trinkt.
Lange lebt sie in Schöneberg unter der Julius-Leber-Brücke.
Und irgendwann, vor ein paar Jahren, steht sie in der Bahnhofsmission, schaut deren Leiter Dieter Puhl in die Augen und sagt: „Bitte, hilf mir.“
Und weil sie die Queen ist und weil sie kaputte Beine hat, darf sie auch rein, wenn offiziell geschlossen ist. Darf duschen, wo das eigentlich nicht geht. Bekommt ein hart gekochtes Ei zugesteckt.
Wer sie rauswerfen will, vergisst sein Vorhaben nach wenigen Minuten. Kathi findet schnell die Schwächen des anderen. „Was wollen Sie mir erzählen“, sagt sie zum Notarzt. „Ich habe selbst Medizin studiert.“ Immer wieder entlässt sie sich aus dem Krankenhaus. „Ich habe mal bei euch gearbeitet, ich kenn euern Chef“, sagt sie BVG-Kontrolleuren beim Schwarzfahren.
Kommandoton, Adlerblick: „Kratz mich mal! Ich hab Läuse.“ Schlaf holt sie beim Mittagessen nach. Kopf auf den Tisch. Wo sie nachts wacht, erfährt niemand. „Wo kommst du her?“ „Von draußen.“
Dann spielt sie Skat mit den Freunden, hinter den Gleisen auf die Krücke gestützt, den Tisch hinzugedacht, den Spieleinsatz auch. Bleibt die Ehre.
Manche ihrer Freunde starben an Heroin, andere soffen sich zu Tode. Kathi Brehmer, 49, lag auf einer Parkbank am Olympiastadion.
„With a little help from my friends“ – schallt aus einem Ghettoblaster auf dem Tempelhofer Friedhof. Ein gecharterter BVG-Bus bringt Kathis Freunde dorthin. Macht man schon mal, für die Queen. Die Kapelle ist voll. „Charmant-stachelig“, sagt der Pfarrer über Kathi.
Einer hat die Bahnhofsmission noch schnell um ein weißes Hemd gebeten. Einer wirft Skatkarten ins Grab. Einer öffnet eine Pulle Bier für Kathi. Ihre Zoo-Familie, die Männer aus der Trinkrunde, legen schluchzend zwei Hertha-Schals zum Kreuz.
„Kann ich mal ’ne Wohnung?“, hatte Kathi Brehmer vor ein paar Jahren zu den Sozialarbeitern gesagt. Jetzt können wir doch helfen, dachten sie bei der Bahnhofsmission erleichtert. Jetzt nimmt sie die Hilfe endlich an, die sie nicht brauchen will. Jetzt schafft sie es.
Nach 14 Tagen brachte Kathi den Schlüssel zurück.
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