Neues Konzept zur zivilen Verteidigung: Katastrophenvorsorge? Kennen die West-Berliner noch gut
Der Bürger soll für harte Zeiten vorsorgen - in West-Berlin gab es einst die Senatsreserve, von Kreuzberg bis Kladow. Ein Rückblick
Am 26. Januar 1989 fiel in der Grundschule am Ritterfeld in Kladow der Unterricht weitgehend aus. Zwei Drittel der Schüler waren nicht erschienen, die Gesamtelternvertretung hatte diese Protestaktion beschlossen. Doch nicht etwa marode Klassenzimmer oder ekelerregende Schultoiletten hatten Väter und Mütter erzürnt.
Ihre Empörung galt den dicken Lastwagen, die pausenlos an der Schule vorbeidonnerten und dabei die ganze Wegstrecke schwarz vollstaubten. Sie sollten das neue, nordöstlich gelegene Steinkohlenlager füllen, eine Sandgrube, ursprünglich für Bauschutt gedacht, nun als Teil der Senatsreserve für die Bevorratung des Brennmaterials. Insgesamt 1,2 Millionen Tonnen Steinkohle, so der Plan, sollten dort für den Ernstfall gehortet werden. Man konnte ja nie wissen, ob der Russe nach der gescheiterten Blockade 1948/49 nicht noch einmal versuchen würde, West-Berlin den Saft abzudrehen.
Ist es wieder so weit? Die jetzt bekannt gewordenen Pläne der Bundesregierung, den Bürgern zwecks Kriegs- und Katastrophenvorsorge eine private Bevorratung von Lebensmittel für zehn Tage zu empfehlen, hat manch einen in der ehemaligen Frontstadt schmerzlich an die Zeiten des Kalten Krieges erinnert, als der Senat, schon kurz nach dem Ende der Berlin-Blockade von den West-Alliierten dazu aufgefordert, sich auf eine erneute, von außen aufgezwungene Mangelwirtschaft einstellte und an vielen Stellen seiner Stadthälfte Lager anlegen ließ. Deren Inhalt sollte aber nicht nur für zehn Tage, sondern sogar für ein halbes Jahr reichen.
Das Programm war weitgehend geheim
Das kostete natürlich eine Menge Geld, wie viel genau, war geheim, wie überhaupt über Art und Umfang der Vorratshaltung offiziell nur wenig zu erfahren war. Im Herbst 1989, also kurz vor dem Mauerfall, der mit Verzögerung auch das Ende der Senatsreserve bedeutete, wurde der Gesamtwert der gelagerten Gegenstände und Lebensmittel auf mehr als zwei Milliarden Mark geschätzt. Pro Kopf der Bevölkerung wurden damit für rund 1000 Mark Waren in etwa 700, der Öffentlichkeit meist unbekannten Lagern aufbewahrt. Allein das Umwälzen von nur begrenzt lagerfähigen Dingen wie Lebensmitteln kostete jährlich -zig Millionen.
Unsere Slide-Show: So sah der Westhafen 1928 aus
Von einigen Lagern wusste man schon, etwa dem Fichtebunker in Kreuzberg und dem am Anhalter Bahnhof, den Lagergebäuden am Westhafen und den nicht zu übersehenden Kohlenbergen etwa am Friedrich-Olbricht-Damm in Charlottenburg. Aber wer hätte schon sagen können, dass sich im ehemaligen Festsaal des Alten Dorfkrugs in Alt-Lübars ein großes Düngemittellager befand oder sich im ehemaligen Riesenkino Mercedes-Palast in der Neuköllner Hermannstraße die Lebensmittelsäcke stapelten. Noch heute bleibt an der Senatsreserve manches rätselhaft. Waren wirklich 10 000 Nachttöpfe notwendig, um möglichen sowjetischen Drangsalierungen zu widerstehen?
Auch der Einwand von Senatsseite, Toilettenpapier sei im Ernstfall schon mal durch zerrissene Zeitungen zu ersetzen, leuchtete eigentlich ein, nur dem Bund nicht, der auch hier einen ausreichenden Vorrat verlangte. Verständlicher waren da schon die 5000 für alle Fälle eingelagerten Fahrräder, die aber bereits kurz vor der Wende als entbehrlich galten und verkauft wurden, Damen- und Herrenräder des Baujahrs 1961, hellblau und hellgrau, „ungebraucht, konserviert und originalverpackt“, wie es damals werbend hieß.
Alte Konserven wurden zu "Moppelkotze"
Ohnehin haben die West-Berliner auch ohne den dann doch ausbleibenden „X-Fall“ von der Senatsreserve profitiert. Die unehrlichen, die etwa aus einem Lager in der Güstener Straße in Kreuzberg zwei Tonnen Herings- und Bücklingsfilets in Dosen entwendeten; die geschäftstüchtigen, die im großen Stil beim Kauf und Weiterverkauf aussortierter Lagerbestände einen guten Schnitt machten; und die Durchschnittsberliner, die sich freuten, wenn mal wieder billig Konserven mit Grünen Bohnen und Rindfleisch zu haben waren, Grundzutaten zu einem „Moppelkotze“ genannten Eintopf. Auch für die Verteilung der Waren war vorgesorgt. Lebensmittelkarten und Bezugsausweise lagen stapelweise bereit, man kannte das ja noch aus den ersten Nachkriegsjahren. Gebraucht wurden sie zum Glück nicht. Als man die Lager Anfang der neunziger Jahre leerte, wurden sie entsorgt und erhebliche Teile der gehorteten Lebensmittel und Medikamente an die Sowjetunion als humanitäre Geste verschenkt. Und auch das Steinkohlelager in Kladow wurde nie ganz gefüllt, es blieb statt der geplanten 1,2 Millionen bei 650.000 Tonnen, die wie der Inhalt der anderen Kohlelager verfeuert wurden.
In Kladow blieb ein großes Loch, heute ein Teich, Teil des von den Briten gegründeten, 1999 erweiterten Golfplatzes. Grüne Wiesen statt Kohlebunker – keine schlechte Lösung.