Ein Mobilitätsgesetz für die Hauptstadt: Kampf um jeden Zentimeter Straße
Mobilität? Für den Senat bedeutet das vor allem den Ausbau des Fahrradverkehrs. Berlins Unternehmer fürchten, von der Straße gedrängt zu werden.
Mal Google fragen, was Mobilität ist. Die Maschine antwortet: „Der Zustand, dass in einer Gesellschaft Menschen nicht mehr eng an einen Ort gebunden sind.“ Eine Regierungskoalition kann man sich demnach als das Gegenteil von Mobilität vorstellen – in Berlin jedenfalls. Denn hier sind Sozialdemokraten, Linke und Grüne in Senat und Abgeordnetenhaus sehr eng aneinander gebunden. Und diese Schicksalsgemeinschaft hat sich nun nach langen innerkoalitionären Kämpfen auf ein Gesetz geeinigt, das Mobilität regeln soll: das sogenannte Mobilitätsgesetz. Es geht dabei jedoch nicht um die Trägheit von Rot-Rot-Grün, sondern um die Stadt und ihren Verkehr.
Binnen zehn Jahren – von 2008 bis heute – ist die Hauptstadt nach Angaben des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg um knapp 350 000 Menschen gewachsen. Das bedeutet, dass die Bevölkerungen von Städten, die so groß sind wie Bielefeld, Wuppertal oder Bochum, integriert werden müssen. Die Folgen der internationalen Berliner Sogwirkung spüren Wohnungssuchende, Eltern auf Kitaplatzsuche und Nahverkehrsnutzer Tag für Tag. Die Mieten explodieren, Kitas, die S-Bahn und die BVG-Züge sind überfüllt und überlastet, in vielen Bezirken ist der Verkehrsinfarkt Realität. Berlin wächst, wird lauter, schneller und anstrengender.
Das tägliche Klagelied
Wer sein Geld mit der Teilnahme am Straßenverkehr verdient, bemerkt das besonders intensiv. So zum Beispiel Bernhard Lemmé. Er ist Geschäftsführer der NENN Entsorgung. Die Firma fährt mit 14 schweren Lastwagen durch die Stadt, um Abfälle aller Art einzusammeln. Große Container stellen Lemmés Leute vor Baustellen und an Straßenrändern ab – im ganzen Stadtgebiet. Wenn man den Boss fragt, ob der Umgang auf Berlins Straßen rüder geworden ist, bekommt man ein klares „Ja“ zu hören. Und weiter: „Es ist viel mehr Verkehr geworden, das spüren wir ganz deutlich und das macht es uns immer schwerer.“ Busfahrer, Taxifahrer, Rettungssanitäter – sie alle und noch viel mehr professionelle Fahrzeuglenker und Berufspendler können in den Klagegesang einstimmen. Das Problem ist real. Doch dass der Senat mit seinem Mobilitätsgesetz, das er jetzt auf den Weg gebracht hat, in der richtigen Spur ist, zweifeln die Profis hinterm Steuer an.
Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) behauptete nassforsch, das Gesetz sei der Auftakt einer neuen Ära im Verkehrsbereich. Es war ein holpriger Start. Denn die Koalition hat das neue Regelwerk nur mit Mühe durch den Verkehrsausschuss bugsiert – 50 Änderungen mussten die Koalitionspartner noch in den Senatsentwurf einarbeiten. Stolz ist die Senatorin darauf, dass erstmals Radfahrer, Fußgänger und Fahrgäste des Nahverkehrs bei der Planung Vorrang erhalten werden. Nur so, da ist sich Rot-Rot-Grün sicher, kann die rapide wachsende Stadt vor dem Verkehrskollaps bewahrt werden.
Wirtschaftsverkehr first
„Und was ist mit den Wirtschaftsverkehren?“ Diese Frage stellt Burkhard Rhein, Abteilungsleiter Industrie-, Energie- und Infrastrukturpolitik bei den Unternehmensverbänden Berlin-Brandenburg (UVB). Seinem Verband kommt die Rolle des Spielverderbers zu. Was sind überhaupt Wirtschaftsverkehre?
Rhein zählt ein paar Beispiele auf: „Pflegedienste, die Belieferung von Supermärkten oder Produktionsbetriebe.“ Und natürlich die Bauwirtschaft: „Der Senat will laut Koalitionsvertrag in den kommenden Jahren 30 000 Wohnungen bauen“, sagt Rhein im Gespräch mit dem Tagesspiegel und ergänzt nach einer rhetorischen Pause: „Das muss dann auch verkehrlich möglich sein – schließlich müssen etwa für jede neue Zwei-Zimmer-Wohnung im Schnitt 155 Tonnen Baumaterial durch die Stadt transportiert werden.“
Wenn man sich den Verbandsmann als einen ewiggestrigen Romantiker des motorisierten Individualverkehrs vorstellt, für den Radfahrer Verkehrsteilnehmer zweiter Klasse sind, die am besten nicht den Autos in die Quere kommen, macht man es sich zu einfach. „Mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, ist kein Wirtschaftsverkehr“, sagt Rhein. Seine Kritik am Mobilitätsgesetz ist dennoch grundsätzlich: „Der Verkehr, der für das Funktionieren der Stadt wichtig ist, findet dort nicht statt.“ Natürlich sei es richtig, die Straßen durch mehr Rad- und weniger Autoverkehr zu entlasten. Aber: „Wir können Supermärkte nicht mit Lastenrädern beliefern.“ Was wäre denn richtig gewesen? Rhein: „Klar muss sein: Der Wirtschaftsverkehr braucht leistungsfähige Straßen. Gesonderte Fahrradstraßen oder sichere Fahrradwege sind eine gute Idee – sie dürfen aber nicht zu Engpässen und neuen Staus auf den großen Verkehrsachsen führen.“
Brauchen oder Wollen?
Die parlamentarische Vertretung der Verbandsperspektive hat beim Mobilitätsgesetz die Union übernommen. Deren Verkehrsexperte im Abgeordnetenhaus ist Oliver Friederici, der noch kompromissloser mit dem Senat ins Gericht geht als der UVB. Mit abwägenden Formulierungen hält Friederici sich nicht lange auf. „Es handelt sich bei diesem Mobilitätsgesetz um ein reines Fahrradgesetz und das ist klassische Klientelpolitik.“ Damit wolle Rot-Rot-Grün nur seiner Stammwählerschaft eine Freude machen. „Es werden nur Radenthusiasten bedient, sonst niemand.“
Doch die Kritik des Unionsabgeordneten wird noch grundsätzlicher: „Ich frage mich, ob man dieses Gesetz überhaupt braucht“, schimpft Friederici. „Denn Verkehrsppolitik macht man doch nicht nach Gesetz, sondern nach aktueller Lage.“ Viel wichtiger seien jetzt ganz andere Themen. Zum Beispiel? Die Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen: eine Verlängerung der U-Bahn-Linie 1 zum Ostkreuz, eine Verlängerung der U 7 zum Flughafen BER, eine Verlängerung der U 8 ins Märkische Viertel und der U 3 vom Endbahnhof Krumme Lanke bis zur S 1 am Mexikoplatz. Auch weitere Straßenbahnkilometer und der Ringschluss der Autobahn 100 seien wesentlich dringender als das Mobilitätsgesetz. Friederici glaubt außerdem nicht, dass eine noch so einseitige Förderung des Radverkehrs am Ende auch funktioniert: „Das kann keine Lösung für die Gesamtstadt sein. Die Leute aus Köpenick oder Frohnau werden auch dann nicht aufs Rad umsteigen.“
Mit seiner harten Linie ist Friederici fast ein wenig allein. Sogar der Geschäftsführer der Fuhrgewerbeinnung Berlin-Brandenburg schlägt konziliantere Töne an, wenn man ihn auf das Mobilitätsgesetz anspricht: Als in grauen Vorzeiten die autofreundliche Stadt propagiert und geplant wurde, sei das sicherlich nicht der richtige Weg gewesen, sagt Gerd Bretschneider. Aber: „Wenn man heute die fahrradfreundliche Stadt plant, ist das genauso falsch.“ Denn: „Wir brauchen eine Infrastruktur, mit der der Lkw-Verkehr problemlos fließen kann.“ Das jetzt durch den Verkehrsausschuss abgesegnete Gesetz sei zu radzentriert: „Ich befürchte, dass trotz der Zusicherungen der Senatorin am Ende doch nicht auf alle Mobilitätsbedürfnisse aller Verkehrsteilnehmer eingegangen werden wird.“
Wie dramatisch die Situation auf Berlins Straßen mittlerweile ist, zeigt das Gespräch mit Entsorgungsprofi Bernhard Lemmé. Halb ernst und halb verzweifelt sagt er: „Ich bin bald so weit, zu sagen, dass wir mal darüber nachdenken sollten, den motorgebundenen Individualverkehr aus der Stadt zu entfernen.“ Das könne natürlich nur funktionieren, wenn der öffentliche Nahverkehr stark ausgebaut und für die Nutzer kostenlos angeboten würde.
Den Verzicht aufs Auto proben seit wenigen Tagen Lieferdienste. Unter dem Kürzel KoMoDo – das steht für „kooperative Nutzung von Mikro-Depots durch die Kurier-, Express-, Paket-Branche für den nachhaltigen Einsatz von Lasträdern in Berlin“ – werden in Prenzlauer Berg und Mitte nun die Bestellungen von Amazon, Zalando & Co. auch per Lastenrad ausgeliefert. Das Mobilitätsgesetz brauchte es dafür nicht. Auf Nachfrage beim Logistiker DHL war man in der Berlin-Dependance ahnungslos. „Mobilitätsgesetz? Wann soll das verabschiedet worden sein? Nie gehört.“
Jan-Philipp Hein