Verwaltung in Berlin: Jeden Tag eine neue Katastrophe
Bärenstark? Schön wär’s! Jahre des Sparens haben Schrammen hinterlassen: Berlins Verwaltung befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Die Wirtschaft warnt jetzt vor den Folgen eines Staatsversagens
Wenn es jemanden gibt, der Berlins Verwaltungschaos aus nächster Nähe kennt, dann ist es Sebastian Muschter. 2016, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, übernahm der frühere McKinsey-Berater die Leitung der wohl berüchtigtsten Behörde Deutschlands: des Berliner Landesamts für Gesundheit und Soziales (Lageso). Über Monate hinweg bildeten sich damals Menschenschlangen vor der chronisch überlasteten Behörde. „An jedem Tag durchlebten das Amt und seine Mitarbeiter eine neue Katastrophe“, erinnert sich Muschter. Zu wenig Geld, kaum Personal – nicht einmal auf die Fahrstühle im Amt war Verlass; den Weg in sein Büro im zehnten Stockwerk musste Muschter deshalb regelmäßig zu Fuß antreten. „Es fehlte an allem: Vor allem aber an Personal und einem Konzept, dem Menschenandrang Herr zu werden.“ Dennoch, Muschter ist sich sicher, Berlin sei damals nicht Zeuge einer Flüchtlingskrise, sondern einer Verwaltungskrise geworden. Nach einem Jahr hatte Muschter genug und verließ die Behörde. Die Berliner Verwaltungskrise setzte sich in den folgenden Monaten fort.
Unter Berlins Unternehmen wird diese Entwicklung mit Sorge beobachtet. Kein Wunder: Auf durchschnittlich 130 Behördenkontakte kommt eine Hauptstadtfirma im Jahr – sie zählen damit zu den Hauptkunden der Verwaltung. Der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) drängt den Senat deshalb jetzt zum Handeln. „Die latente Überforderung des Verwaltungsapparats führt dazu, dass notwendige Planungsprozesse ausgebremst und Genehmigungsverfahren – nicht zuletzt im Bereich der Bauwirtschaft – immer wieder in die Länge gezogen werden“, mahnt der Wirtschaftsverband in einem Positionspapier, das dem Tagesspiegel vorliegt.
Ihren Lauf habe die Krise bereits vor einer Dekade genommen: „Die jetzige Situation Berlins habe ihren Ursprung im „sicherlich alternativlosen Sparkurs der Vorgängerregierungen“, heißt es im Papier. „Nun, fünf bis zehn Jahre später, sehen wir deren Auswirkungen – und es wird noch dramatisch schlechter werden: Man hat in den vergangenen Jahren zu sehr in Kauf genommen, dass man die Themen zwar wälzt, aber nicht umsetzt.“
ZU WENIG PERSONAL
Tatsächlich sind Personalmangel und Verwaltungsstau keine neuen Phänomene in Berlin. „Die Beamten laufen bleich und übelriechend herum, weil die Arbeitsbelastung so hoch ist“, lästerte Thilo Sarrazin bereits im Februar 2002 über die Zustände in Berlins Beamtenschaft. In den folgenden sieben Jahren dann hätte der damalige Finanzsenator und SPD-Politiker reichlich Möglichkeiten dazu gehabt, die Arbeitsbelastung zu verringern und seinen Unterstellten somit zum besseren Teint und lieblicheren Odeur zu verhelfen. Doch das Gegenteil geschah: Seit dem Jahr 2000 ist der Personalbestand in der Verwaltung um rund 37.000 Mitarbeiter geschrumpft.
„Der Personalabbau war unabweisbar. Aber er hat zu einer Überalterung der Beschäftigten geführt, von denen ein großer Teil ausscheidet“, sagt VBKI-Geschäftsführer Udo Marin. „Die wachsende Stadt braucht aber mehr, nicht weniger Personal.“
Tatsächlich scheidet bis 2022 ein Viertel der jetzt noch Beschäftigten in der Verwaltung aus Altersgründen aus. In den Bezirksämtern ist es fast ein Drittel. Das gilt auch für die Führungskräfte im höheren Dienst, die ihre Erfahrung und ihr Wissen in den Ruhestand mitnehmen. „Das bedeutet 40.000 Neubesetzungen in den nächsten vier Jahren!“, schreibt der VBKI in seinem Papier – das können der Senat und die zwölf Bezirke beim besten Willen („der aktuell nicht einmal vorhanden ist“) nicht umsetzen.
Auch der andere Spitzenverband der Berliner Wirtschaft, die Industrie und Handelskammer (IHK), zweifelt daran, dass die Verwaltung ihre Personalprobleme in den Griff bekommt. „Die Verwaltung steht im Wettbewerb um Talente nicht gut da: Sie zahlt oft weniger als die private Wirtschaft oder andere Bundesländer und steht zusätzlich in Konkurrenz mit Bundesbehörden“, schrieb IHK-Chefin Beatrice Kramm unlängst in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. Bleich werden in Berliner Amtsstuben die Gesichter daher wohl auch in den kommenden Jahren aussehen: Die durchschnittliche Krankenquote im Landesdienst liegt derzeit bei mehr als 10 Prozent. Tendenz: steigend.
Doch nicht nur die Quantität, auch die mangelnde Managementkompetenz der Mitarbeiter hat zur Dauerkrise in der Verwaltung geführt, glaubt Sebastian Muschter. „Von den mehr als 1000 Lageso-Mitarbeitern hatten sicher keine fünf eine Managementausbildung“, sagt der frühere Behördenleiter. Muschter warnt deshalb vor einer großen, unbedachten Einstellungswelle. „Es wäre Unsinn, jetzt einfach wieder 1:1 die Stellen so nachzubesetzen.“ Die Verwaltung brauche nicht zehntausende neue Sachbearbeiter, die Papierakten bearbeiten, sondern Sozialarbeiter, Lehrer, Kita-Erzieher – und Manager, die die neuen Prozesse gestalten können. „Viele der Aufgaben, mit denen sich heute die Mitarbeiter der Behörden herumquälen, könnten wegfallen, wenn der Senat die Verwaltungsabläufe konsequent digitalisieren würde – so entstehen finanzielle Freiräume für mehr Menschen, die direkt am Bürger arbeiten.“
SCHLECHTE AUSRÜSTUNG
Damit aber wären wir beim nächsten Problem: Anders als in anderen europäischen Städten, geht es in Berlins Amtsstuben größtenteils zu wie zu Bismarcks Zeiten. Beispiel Estland: Jeder Unternehmer kann dort am eigenen Computer ohne Papierkram eine Firma gründen. Dies dauert durchschnittlich noch eine halbe Stunde. Auch Jahresberichte, Registerauszüge oder Grundbucheinträge lassen sich online erledigen. Die estnische Regierung erledigt ihrerseits Amtsgeschäfte mittlerweile komplett papierlos. Anstatt mit Aktenmappen unterm Arm kommen Minister mit Laptops oder Tablets zu den Kabinettssitzungen. Offizielle Dokumente werden in der Regel digital signiert – einen Kugelschreiber benötigen Minister nur noch bei Zeremonien.
Und in der deutschen Hauptstadt? Kann man sich immerhin sein „Blitzerfoto“ online ansehen, heißt es desillusioniert im Papier des VBKI – das Knöllchen kommt dann aber per Briefpost. Der Wirtschaftsverband fordert deshalb Nachbesserungen vom Senat: „Die schlechte Breitbandversorgung ist ein riesiger Hemmschuh, vor allem im Standortmarketing, taugt aber zumindest als Beispiel für die Frage, wie die Berliner Wirtschaft denn brummen würde, gäbe es überall schnelles Internet.“
DOPPELTE STRUKTUREN
Damit nicht genug, auch der institutionelle Clash zwischen den Verwaltungsebenen, zwischen Senat und Bezirken, lähmt die Unternehmen im Tagesgeschäft. „Die Zweistufigkeit der Verwaltung ist in Berlin Problem“, sagt Martin Fleckenstein, Fachanwalt für Verwaltungsrecht. „Wir könnten einiges von einer Metropole wie Hamburg lernen, das zwar auch zweistufig organisiert ist, in dem die Bezirke aber im Wesentlichen exekutieren, was der Senat vorgibt.“ In Berlin hingegen haben die Bezirke weitergehende Kompetenzen und verfolgen häufig unterschiedliche Agenden – Konflikte mit dem Senat sind damit programmiert. Ein Beispiel aus der Immobilienwirtschaft: Grundsätzlich sind die Bezirke dafür zuständig, Bebauungspläne aufzustellen. Ist der Plan einmal fertiggezeichnet, geht er in mehrere Zustimmungsrunden beim Senat. „Es gibt grundsätzlich zwei Rechtsprüfungen in Bebauungsplanverfahren. Schon das führt zu erheblichen Verzögerungen, und es kommt auch nicht zur sogenannten Planreife, also der Genehmigungsfähigkeit von Bauvorhaben vor der Beschlussfassung über Bebauungspläne“, sagt Fleckenstein.
Grund zum Disput liefert auch das sogenannte „Berliner Modell der kooperativen Baulandentwicklung“, das Bauherren bei großen Immobilienprojekten dazu zwingt, einen Anteil von mindestens 30 Prozent der Geschossfläche für den sozialen Wohnungsbau bereitzuhalten. „Dieses grundsätzlich richtige Modell wird in Berlin vom Senat flächendeckend angewandt – unabhängig davon, ob die Bezirke es wollen oder ob es vor Ort geboten ist. Vor allem in den Außenbezirken hat das in der Vergangenheit immer wieder zu zeitraubenden Meinungsverschiedenheiten mit dem Senat geführt“, sagt Fleckenstein.
Die Leidtragenden sind letztlich die Unternehmen, die den Ausgang der verwaltungsinternen Machtkämpfe abwarten – und sich ihnen fügen müssen. „Es gibt eher eine autoritäre Mentalität in der Berliner Verwaltung, weniger eine kooperative“, sagt Rechtsanwalt Fleckenstein. Es sei schwierig, an einem Tisch mit Bauherren, Verwaltung, Stadtplaner und sonstigen Beteiligten zu Lösungen zu kommen. „Es gibt da immer dieses preußische Verwaltungsverständnis: Die Verwaltung lässt den Bürger vorsprechen, sie ist weniger serviceorientiert als in anderen Städten.“
An manchen Orten der Stadt werde zudem eine regelrechte „Verhinderungspolitik“ betrieben, was die Ansiedlung der Kreativwirtschaft angehe, sagt Fleckenstein. So hielten die Bezirke weiterhin an Bestimmungen fest, die früher mal in einer Richtlinie mit der monströsen Bezeichnung „Industrieflächensicherungskonzept“ niedergeschrieben waren. Mit dem Konzept hatte der Senat in den 90er Jahren auf die rasant anziehenden Preise für Gewerbeflächen reagiert. Eine Nutzung für Büros, Dienstleistungen und Wohnen wurde ausgeschlossen, um die Bodenpreise für das verarbeitende Gewerbe niedrig zu halten. Und heute? Trifft es junge Unternehmen: Digitale Start-ups oder auch kunsthandwerklichen Betriebe schlägt häufig der Einwand entgegen, dass frühere Industrieareale auch weiterhin reserviert seien für das produzierende Gewerbe. Doch wird Lichtenberg demnächst die Eröffnung einer neuen VW-Fabrik feiern? Darf Kreuzberg auf die Ansiedlung von Stahlwerken hoffen? Anwalt Fleckenstein hat Zweifel: „Aus Berlin wird keine klassische Industriestadt mehr.“
SCHLECHTE PERSPEKTIVE
Es ist dabei nicht so, dass es dem Senat am Problembewusstsein mangelt. „Die Berliner Verwaltung hat einen deutlichen Reformbedarf“, sagt Wirtschaftsenatorin Ramona Pop, „daher hat der Senat die Expertenkommission unter Leitung von Heinrich Alt eingesetzt. Diese soll konkrete Umsetzungsvorschläge machen.“ Die Verwaltung müsse besser, schneller und serviceorientierter werden, fordert die Grünen-Politikerin. Denn: „Eine funktionierende Verwaltung ist auch für Wirtschaftsunternehmen unerlässlich.“
Doch offenbar ist das Zuständigkeitswirrwarr der Berliner Verwaltung auch für die 13-köpfige Expertenkommission von Heinricht Alt, einst Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, schwer zu greifen. Im Herbst nahm das Gremium seine Arbeit auf, sollte praktische Lösungen finden, legte dann einen 12-Punkte-Katalog vor. Doch der Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD) reichte das nicht, weil vieles drin stand, was ohnehin bekannt war. Kurzerhand wurde aus dem End- ein Zwischenbericht.
Nun soll die Alt-Kommission ihre Empfehlungen konkretisieren. Denn, so heißt es in einer Vorlage der Senatskanzlei: „Die vielschichtigen Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft werden zurzeit nicht in allen Verwaltungsbereichen strukturiert erfasst.“ Die Experten sollen erklären, wie Wirtschaftsdenken in die Verwaltung einziehen kann durch Steuerung mit Kennzahlen, datengestützt und kundenzentriert, Leistungsindikatoren, Zielvereinbarungen, Messung der Kundenerwartungen, Monitoring der Verfahrenslaufzeiten und ein ergebnisorientiertes Controllingsystem – alles für eine bessere Qualität im Service. Dazu gehört auch, die Zuständigkeiten zwischen Landes- und Bezirksebene klar zu benennen. Bis zum 31. Mai soll Heinrich Alt einen neuen Bericht vorlegen, dazu auch Vorschläge, an welchen Stellen Gesetze geändert werden müssen.
Dieser Artikel erschien in der wöchentlichen Sonderseite "Berliner Wirtschaft". Folgen Sie uns auf Twitter für Updates: @BRLNRwirtschaft