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Das Kammergericht Berlin hat mit veralteten Systemen zu kämpfen.
© Mike Wolff
Exklusiv

Experten warnten schon 2017: IT-Katastrophe am Berliner Kammergericht kam mit Ansage

Ein Virus legt das IT-System am Kammergericht lahm. Fachleute sahen schon vor zwei Jahren ein Sicherheitsrisiko – die Software war hoffnungslos veraltet.

Nach dem Virus-Befall am Berliner Kammergericht und der daraufhin fälligen Trennung aller Computer vom Internet kommen immer neue Unzulänglichkeiten bei der IT-Infrastruktur der Berliner Justiz ans Tageslicht. Demnach arbeiten zahlreiche Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, allen voran das Kammergericht, bis heute mit einem Experten zufolge hoffnungslos veralteten System namens „Aulak“.

Ein dem Tagesspiegel vorliegendes Gutachten belegt, dass Experten die Abschaffung des auf dem Betriebssystem Windows 95 basierenden Programms bereits im Jahr 2017 gefordert hatten. Passiert ist, zumindest mit Blick auf das Kammergericht, bis heute nichts.

Während Aulak in einzelnen Bereichen der Amtsgerichte und des Landgerichtes abgeschafft wurde, läuft das Programm in dem unter anderem für Terror- und Staatsschutzverfahren zuständigen Gericht auf allen, wegen des Virus-Befalls auf unbestimmte Zeit vom Internet getrennten, Rechnern.

Wörtlich heißt es in dem von der Unternehmensberatung „Accenture Operations“ erstellten Gutachten zu Aulak unter dem Stichwort „Risiken“: „Nicht supportete Software und Betriebssysteme sind ein ernstzunehmendes Sicherheitsrisiko.“ Im Fazit der Untersuchung heißt es weiter: „Bitte warten Sie nicht länger! Budgetieren und unterstützen Sie ein umfassendes Transformationsprogramm.“

Unklar ist, warum der Appell bis heute folgenlos blieb. Insider vermuten, dem Kammergericht fehle die für die Umstellung nötige Expertise. Das für die IT der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständige Dezernat ITOG wird von Beobachtern als wenig kompetent beschrieben. Zwischen ITOG und dem für die IT-Dienstleistungen des Landes zuständigen ITDZ soll ein eisiges Verhältnis herrschen.

Kammergericht: Warum blieb der Appell bis heute folgenlos?

Zutage getreten war das zuletzt im Zuge des Virus-Befalls. Diesen hatten, wie Gerichtspräsident Bernd Pickel am Montag im Ausschuss für Kommunikationstechnologie und Datenschutz ein weiteres Mal einräumte, Experten des ITDZ identifiziert.

  • Nach einem Virus-Befall hat das Berliner Kammergericht alle Computer vom Netz getrennt
  • Nun kommen immer neue IT-Probleme der Justiz ans Tageslicht
  • Experten zufolge arbeitet das Kammergericht mit einem hoffnungslos veralteten System
  • Abschaffung wurde bereits 2017 gefordert
  • Eisiges Verhältnis zwischen Dezernat ITOG und ITDZ

Deren Anweisung, das Gericht vollständig vom Netz zu trennen, soll ITOG nur widerwillig gefolgt sein. Schon bald wird sich eine engere Zusammenarbeit zwischen beiden jedoch nicht verhindern lassen. Thema im Ausschuss war die Migration der IT-Infrastruktur des Kammergerichts zum ITDZ. Der über Jahre beschrittene und durch den Virus-Befall nun offenbar gescheiterte Sonderweg des Kammergerichts kommt damit an sein Ende. Eine Migration zu Dataport scheint vom Tisch.

Trojaner-Angriff im Kammergericht: Behandlung des Themas führt zu Streit

Eine weitere Erklärung für die wenn überhaupt nur zögerliche Umsetzung des im Gutachten geforderten Transformationsprogramms: Die für die Aulak-Nachfolge vorgesehene Software, das in anderen Bundesländern bereits wieder abgeschaffte Programm Forumstar, gilt unter Kennern schon jetzt als veraltet. Von Forumstar benötigte Programme würden schon heute nicht mehr mit Updates versorgt, heißt es unter Experten.

Ein ebenfalls von „Accenture“ erstelltes und mit dem Zusatz „Nur für den Dienstgebrauch“ gekennzeichnetes Gutachten listet gleich mehrere Punkte auf, die Zweifel an der Eignung von Forumstar erkennen lassen. Dennoch teilte die mutmaßlich als Auftraggeber für die Gutachten auftretende Senatsverwaltung für Justiz im August mit: „Derzeit ist an etwa 2500 Justizarbeitsplätzen in Berlin das Fachverfahren forumSTAR bereits produktiv im Einsatz.“ Weitere Module an den Amtsgerichten Schöneberg sowie Pankow/Weißensee würden zeitnah pilotiert und ausgerollt.

  • Streit im Rechtsausschuss um Behandlung des Themas
  • Datenschutz-Probleme: Einige Richter fühlen sich zu Unrecht beschuldigt
  • Für einige ist durch den Trojaner der Arbeit von Jahrzehnten dahin

Für Streit zwischen Koalition und Opposition sorgt unterdessen die Behandlung des Themas im Rechtsausschuss am Mittwoch. Nachdem beide Seiten den Besprechungspunkt zum Kammergericht beantragt hatten, warf FDP-Rechtspolitiker Holger Krestel seinem SPD-Amtskollegen Sven Kohlmeier vor, das Thema vertagen zu wollen.

Tatsächlich hatte Kohlmeier eine Änderung der Tagesordnung beantragt, wodurch das derzeit an Rang 1 stehende Kammergericht nach hinten rutschen würde. Kohlmeier dementierte, damit den zur Stellungnahme verpflichteten Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) schützen zu wollen.

Richter wehren sich gegen Schluder-Vorwurf

Durch die Berichterstattung über die Probleme beim Datenschutz, wenn Richter von zu Hause arbeiten, fühlten sich einige Richter angegriffen und zu Unrecht beschuldigt. „Wir sind auf Datenschutzregeln verpflichtet worden und halten uns sehr gewissenhaft daran“, sagte eine Richterin des Kammergerichts am Telefon. Eine weitere betonte, niemals sogenannte Rubren auf dem heimischen Rechner zu haben, also die Daten der Beteiligten, und könne das auch für die Kollegen sagen.

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Als Richter sei man zudem nie fertig mit der Arbeit, weil diese im Kopf stattfinde. Man wache nachts auf, weil man über die Fälle nachdenke, es handele sich nicht bloß um einen Beruf, sondern um eine Berufung und einen Lebensinhalt. Der Trojaner sei ein krimineller und sozialschädlicher Akt gewesen. Am Kammergericht sei noch keine einzige Verhandlung ausgefallen, die Mitarbeiter legten Sonderschichten ein, um Termine aus den Akten herauszuziehen, da elektronisch kein Zugriff bestehe. „Wir geben uns wirklich größte Mühe, dem Recht suchenden Publikum gerecht zu werden.“

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Für einige sei die Arbeit von Jahrzehnten dahin – nämlich für jene, die in dem vorgeschriebenen, nun aber gesperrten Verzeichnis gespeichert haben. Wer sich nicht an die Vorschrift hielt und seine Voten, Urteile und Textbausteine auch lokal auf dem Dienstrechner speicherte, hat die Daten nun noch.

Verwaltungsgericht: Verschlüsselte USB-Sticks

Im Verwaltungsgericht wird auf den Datenschutz sorgfältiger geachtet als bisher im Kammergericht, wo private USB-Sticks benutzt und ungeprüft wieder ins Dienstnetz gesteckt werden konnten, bis das jetzt verboten wurde. Die Verwaltungsrichter dürfen nur vom Gericht gestellte, verschlüsselte USB-Sticks benutzen, und bevor ein solcher Stick vom heimischen PC wieder an das Dienstnetz angeschlossen wird, wird er geprüft.

Alle sind zur Löschung von Daten verpflichtet, die sie auf dem heimischen PC beim Arbeiten speichern. Das schilderte Gerichtsvizepräsident Wilfried Peters. Die Richterschaft gehe verantwortungsbewusst mit Daten um. Es sei ausdrücklich erlaubt, auch Akten mit nach Hause zu nehmen.

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