Ehrenamtliche Netzwerke: „In einer Krise ist es für viele selbstverständlich, dass sie helfen wollen“
Charlottenburger Engagierte des Vereins „Willkommen in Westend“ haben ein Hilfsnetzwerk gegen die Corona-Krise aufgebaut. Ein Interview.
Amei von Hülsen-Poensgen - Juristin, ehemalige Online-Unternehmerin und Mutter von fünf Kindern - ist Sprecherin von „Willkommen in Westend“ und zugleich Mitarbeiterin des Nachbarschafts- und Kulturhauses „Ulme35“, an dessen Gründung sie ebenfalls beteiligt war.
Wie haben Sie in der Krise in Charlottenburg-Wilmersdorf so schnell ein Netzwerk der Initiativen aufbauen können?
Der Startpunkt waren zwei Gespräche, eines mit mit den lokalen Kirchengemeinden über die Frage, wie sie mit ihrem Besuchsdienst dem Bedarf in Coronazeiten gerecht werden könnten, und ein zweites mit einem anderen interkulturellen Begegnungszentrum, das genauso schließen musste wie wir in der Ulme35. Daraus entstand der Gedanke, dass wir damit ja freie Kapazitäten sowie erfahrene Helfer*innen und Organisator*innen haben, die wir jetzt sinnvoll nutzen könnten.
Seit 2015 sind rund um das Thema Geflüchtete viele persönliche Netzwerke und organisatorische Zusammenschlüsse entstanden. Damit war es möglich, sehr schnell Leute anzurufen und zu verabreden, etwas auf die Beine zu stellen. Wenn man schon mal gemeinsam in einer Turnhalle eine Kleiderkammer organisiert hat, dann kann man auch zusammen eine Nachbarschaftshilfe aufbauen.
Wer zählt alles dazu?
Zum engeren Kern der Begegnungszentren gehört das Haus der Nachbarschafft in Wilmersdorf, die Ulme35, das Stadtteilzentrum Charlottenburg-Nord, das interkulturelle Begegnungszentrum Der Divan am Klausener Platz und die Dorfwerkstadt im Mierendorffkiez. Dazu kommen ganz wichtige Partner wie der Kirchenkreis, lokale Kirchengemeinden und natürlich der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf.
Beim Telefondienst ist die Selbsthilfe-Kontaktstelle Sekis dabei, genauso wie der evangelische Jugendclub Eiche aus Westend. Außerdem geben viele andere lokale Gruppen unsere Telefonnummer innerhalb ihrer Netzwerke weiter, die können wir aber auch ansprechen, wenn wir Hilfegesuche haben, bei denen wir lokale oder fachliche Expert*innen brauchen. Das geht vom Moschee-Verein über den Verband alleinerziehender Eltern bis zu Wohnungsbaugesellschaften.
Wie viele Helfer*innen sind dabei?
Wir haben jetzt 470 eingetragene Helfer*innen, darunter auch Geflüchtete. Bisher haben wir 80 Anfragen um Unterstützung vermittelt. Menschen sagen uns, was für eine Hilfe benötigt wird, und wir schauen, wer in dem jeweiligen Postleitzahlenbereich seine Hilfe angeboten hat. Dann wird noch mal mit beiden Seiten gesprochen, erst dann vermitteln wir die jeweiligen Telefonnummern. Am nächsten Tag rufen wir dann noch mal an, um uns zu erkundigen, ob alles gut geklappt hat. Derzeit lösen sich zehn Menschen an drei Telefonleitungen ab, bei Bedarf könnten wir das jederzeit aufstocken.
Welche Hilfen werden vermittelt?
Wir bieten Hilfen beim Einkauf und Botengängen an und bei der Betreuung und Versorgung von Tieren. Natürlich immer mit gebührendem Abstand voneinander. Wichtig ist es auch, Gesprächspartner zu vermitteln für Menschen, die einsam sind. Wir wollen auch Eltern und Alleinerziehenden, die ihre Kinder zu Hause haben, bei der Betreuung, beim Spielen und bei den Schularbeiten unterstützen. Da sind wir noch auf der Suche nach dem goldenen Weg, um einerseits den Kinderschutz zu berücksichtigen und andererseits den Helfenden gute Methoden an die Hand zu geben, weil sie ja auch nur telefonisch oder per Videokonferenz mit den Kindern in Kontakt sein können.
Wir haben aber auch gerade eine Mail an die 470 hilfsbereiten Menschen verschickt und sie auf die besonderen Nöte der Obdachlosen hingewiesen – wir hoffen, dass der eine oder die andere ihnen etwas zu Essen vorbeibringt oder einen Geldschein auf die Decke legt.
[Dieses Interview ist zuerst im Tagesspiegel-Newsletter „Ehrensache“ erschienen - für alle, die Berlin schöner und solidarischer machen. Er erscheint immer am zweiten Mittwoch im Monat. Hier kostenlos anmelden: ehrensache.tagesspiegel.de]
Ist das eine neue Erfahrung: Erst bauen Sie ein Hilfsnetz auf und nun ist auch das Bezirksamt dabei?
Diese Zusammenarbeit ist in der Tat neu und für uns alle ein spannender Lernprozess. Das Bezirksamt stellt uns eine offizielle Telefonnummer zur Verfügung, ein wichtiger technischer Support. Noch besser ist aber, dass wir damit die Anliegen die Menschen direkt in das Bezirksamt zurückspielen und besprechen können, wo es an welchen Stellen Probleme gibt, und welche Lösungen das Amt hat.
Von unschätzbarem Wert ist, dass in dieser Woche 20.000 Menschen aus Charlottenburg-Wilmersdorf, die über 80 Jahre alt sind, einen Brief vom Bezirksbürgermeister und Sozialstadtrat erhalten haben, in dem diesen Menschen unsere Hilfe angeboten wurde. Der Rücklauf, den wir auf diesen Brief erhalten haben, ist unglaublich. Wir haben ganz viele Anrufe erhalten, wo Menschen einfach nur Danke sagen wollten für dieses Signal: „Ihr seid nicht alleine, wir sind für euch da, wenn ihr uns braucht."
Überrascht es Sie, dass gerade in der Krise sich die Stärke der Zivilgesellschaft zeigt?
Nein, natürlich nicht. Wir haben es ja 2015 schon einmal erlebt, als wir in der Flüchtlingskrise Freiwilligenarbeit organisiert haben. Ich habe schon damals erfahren, wie viel Professionalität, Hilfsbereitschaft, Warmherzigkeit und zupackendes Engagement in der Zivilgesellschaft vorhanden ist. Deswegen weiß ich, was die Zivilgesellschaft leisten kann. In einer Krise wie der jetzigen ist es für ganz viele Menschen einfach selbstverständlich, dass sie helfen wollen und können. Ich weiß, dass man manchmal den Menschen nur das Seilende in die Hand geben muss, und schon ziehen viele gemeinsam an dem Strick.
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Was wünschen Sie sich denn von der Politik und der Verwaltung nach dem Ende dieser Krise?
Ich freue mich sehr darüber, dass wir so auf Augenhöhe mit dem Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf und dem Senat zusammenarbeiten können. Das ist für mich schon mal eine Ernte, die wir auf der Grundlage des Engagements der letzten Jahre einfahren können. Es gibt ein gegenseitiges Bewusstsein, dass Zivilgesellschaft und Verwaltung gemeinsam stärker sind und zusammen anders auf die Menschen zugehen können.
Viel schneller als 2015 ist man nicht nur in der Politik, sondern vor allem auch in der Verwaltung bereit, mit uns gemeinsam auch mal neue Wege auszuprobieren und es auch auszuhalten, dass wir eben kein jahrelang etablierter Träger, sondern ein spontan entstandener, dezentral organisierter, aber sehr kreativer Verbund sind. Ich hoffe, dass nach Corona nicht wieder die Mauern hochgehen, sondern dass diese neue Art der Zusammenarbeit zwischen Staat und Zivilgesellschaft auch außerhalb von Krisen immer normaler wird.