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"Das kann nicht wahr sein": Warten und Herumirren - ohne Infos.
© dpa, Gregor Fischer

Bahnchaos durch "Xavier": In 36 Stunden von Berlin nach Cottbus

Tausende Pendler sind durch das Orkantief "Xavier" herumgeirrt - auch ein FDP-Politiker und eine Tagesspiegel-Redakteurin. Das Protokoll einer Odyssee.

DONNERSTAG, 16.00 UHR

Martin Neumann steht am Berliner Hauptbahnhof, als die Durchsage kommt, dass sein Zug wegen des orkanartigen Unwetters ausfällt. Er wartet wie viele andere Reisende, die immer wieder auf den nächsten Zug vertröstet werden.

Tagesspiegel-Redakteurin Sandra Dassler beobachtet zur gleichen Zeit das Chaos am Bahnhof Friedrichstraße. Nichts geht mehr. Sie ruft ihre Kollegen in der Redaktion an und berichtet in den nächsten Stunden von verschiedenen Bahnhöfen.

DONNERSTAG, 19.00 BIS 23.00 UHR

In der Pressestelle der Bahn geht man bereits davon aus, dass einige Strecken – unter anderem die von der Ostdeutschen Eisenbahngesellschaft ODEG betriebene Linie nach Cottbus – in dieser Nacht und wahrscheinlich auch am nächsten Tag nicht befahren werden können. Die Reisenden auf den Bahnsteigen erfahren das nicht. Viele warten Stunden lang.

Trotz tausender gestrandeter Menschen schließt das Reisezentrum am Bahnhof Friedrichstraße pünktlich um 20 Uhr. Der Kollege am noch geöffneten Info-Point tut sein Bestes, um die in langen Schlangen Wartenden zu beruhigen. Martin Neumann, der immer noch am Hauptbahnhof „auf den nächsten Zug“ wartet, ruft am späten Abend eine Bekannte an und übernachtet bei ihr. Auch Sandra Dassler wird von einer guten Freundin aufgenommen.

FREITAG, 6.30 UHR

Martin Neumann steht wieder am Hauptbahnhof und erhält wie viele andere die Auskunft, dass „vielleicht in einer Stunde“ wieder Züge fahren. Doch er wartet vergeblich. Sandra Dassler arbeitet in der Redaktion, berichtet unter anderem über die Lage bei der Bahn.

FREITAG, 14.00 UHR

Die Pressestelle der ODEG teilt nach mehreren Nachfragen mit, dass auf der Strecke nach Cottbus alle drei Stunden zwei Busse eingesetzt werden. Auf die Frage, wie diese die stündlich verkehrenden und mit Hunderten Reisenden besetzten Züge ersetzen sollen, gibt es ebenso wenig eine Antwort wie auf die Frage nach den genauen Abfahrzeiten.

Martin Neumann, der immer noch am Hauptbahnhof wartet, erfährt davon nichts. Dafür bekommt er den Rat, mit dem ICE nach Leipzig zu fahren. Dann könne er von dort weiter, weil die Strecke Leipzig-Cottbus wieder frei sei. Doch der ICE ist hoffnungslos überfüllt, Neumann wird empfohlen, mit dem Eurocity Berlin-Prag nach Dresden zu fahren, von dort nach Ruhland, von wo aus Züge nach Cottbus verkehren würden. Er steigt ein.

FREITAG, 16.00 UHR

Auch Sandra Dassler erhält von der Pressestelle der Bahn in Leipzig die Auskunft, dass die Strecken von Leipzig und auch von Ruhland nach Cottbus wieder befahrbar sind. Sie nimmt den Zug um 16.35 Uhr nach Lutherstadt Wittenberg, von dort aus will sie weiter nach Falkenberg und Ruhland, wo der letzte Zug nach Cottbus laut Bahn-App um 20 Uhr fahren soll.

FREITAG, 17.30 UHR

Der Regionalexpress nach Lutherstadt Wittenberg hat mindestens 15 Minuten Verspätung. Sandra Dassler kann nirgends einen Zugbegleiter entdecken, dafür trifft sie auf eine Eisenbahnerin, die schon Feierabend hat. Von ihr erfährt sie, dass die Strecke Leipzig-Cottbus doch noch gesperrt ist. Die einzige Möglichkeit ist also, über Falkenberg nach Ruhland zu fahren.

FREITAG, 18.10 UHR

Doch die Verspätung wird immer größer und der Zug nach Falkenberg wird in Lutherstadt Wittenberg laut Durchsage nicht mehr erreicht. Sandra Dassler beschließt resigniert, nach Berlin zurückzukehren. Da bemerkt sie durch Zufall, dass der Zug nach Falkenberg auch Verspätung hat und schafft es gerade noch einzusteigen. Aber wird die S-Bahn von Leipzig nach Hoyerswerda über Ruhland in Falkenberg warten? Eine freundliche Schaffnerin weiß sofort, um was es geht: „Sie müssen den letzten Zug in Ruhland bekommen“, sagt sie: „Ich rufe in der Zentrale an und frage, ob die S-Bahn in Falkenberg warten kann.“

FREITAG, 19.00 UHR

Sie schafft es. Die S-Bahn steht abfahrbereit in Falkenberg. Und ein netter Schaffner beruhigt die Reisenden. „Den letzten Zug von Ruhland nach Cottbus kriegen Sie auf jeden Fall. Die Zentrale weiß Bescheid.“ Etwa 40 Menschen, die zum Teil schon sehr lange unterwegs sind, bedanken sich bei ihm. Sind glücklich. Auch Martin Neumanns Zug von Dresden nach Ruhland ist pünktlich.

FREITAG, 20.00 UHR

Der Bahnhof Ruhland ist ziemlich schrecklich – vor allem, wenn es dunkel ist. Er liegt einsam am Ortsrand, durch das Dach sickert Regenwasser auf den Bahnsteig, Personal gibt es dort ebenso wenig wie Busanschluss oder Taxistand. Martin Neumann, Sandra Dassler und alle, die den letzten Zug nach Cottbus erreichen wollen, gehen schweigend treppab, treppauf zum Bahnsteig. Mit Koffern, Rucksäcken, Kinderwagen.

Schock am öden Bahnhof Ruhland: Der letzte Zug fällt aus

Und dann der Schock: „20.00 Uhr: Zug nach Cottbus fällt aus“ steht auf der Anzeigetafel. „Das kann nicht sein“, stöhnen viele. Die Mutter mit Kinderwagen beginnt entnervt zu weinen. „Vielleicht ist es nur ein Fehler in der Anzeige“, sagt einer. Doch da kommt die Lautsprecherdurchsage – und mit ihr die Gewissheit: „Der letzte Zug nach Cottbus fällt aus“. Mehr nicht. Die Reisenden sind ratlos. „Gibt es hier überhaupt ein Hotel?“, fragt einer. „Oder Busse? Oder Taxis?“

Ein netter Schaffner organisiert für die Gestrandeten Taxis

Zum Glück ist die S-Bahn nach Hoyerswerda noch nicht abgefahren. Der nette Schaffner fragt in der Bahnzentrale nach, erhält aber nur die Auskunft, dass sich die Leute selbst kümmern sollen. Dann entscheidet er: „Hier sind Sie verloren“, sagt er zu den Reisenden: „Sie fahren jetzt alle mit mir nach Hoyerswerda, dort besteht wenigstens die Chance auf ein Taxi.“ Schon während der Fahrt organisiert er zwei, drei Taxis, pfeift auf seinen Feierabend und wartet länger als eine Stunde, bis endlich alle in Richtung Cottbus unterwegs sind.

Hilfsbereitete Bahnbedienstete - katastrophales Management

Zufällig sitzen Martin Neumann und Sandra Dassler im gleichen Großraumtaxi. Und sind sich mit den anderen Fahrgästen einig: Dieser Schaffner und seine Kollegin im Zug davor und die vielen anderen Eisenbahner, die alles versucht haben, um den Reisenden zu helfen, verdienen ein großes Dankeschön. Das Management hingegen, ob nun bei Bahn oder ODEG, ist nur als katastrophal zu bezeichnen.

„Niemand kann etwas für Sturmschäden“, sagt Martin Neumann, der als Hochschulprofessor im Fach Gefahrenabwehr unterrichtet: „Wenn Züge nicht fahren können, muss man dies den Fahrgästen sagen, statt sie Stunden lang auf den Bahnhöfen stehen zu lassen. Krisenmanagement bedeutet Kommunikation – das lernen meine Studenten im ersten Semester.“ Außerdem müsse die Bahn mit den Busunternehmen in den Landkreisen Kooperationen für solche Katastrophen eingehen. „Das kann oder muss vielleicht auch durch uns Politiker eingefordert werden.“

FREITAG, 22.15 UHR

Das Großraumtaxi ist nach einstündiger Fahrt am Cottbuser Hauptbahnhof. Martin Neumann erhält dort die Auskunft, dass „vielleicht noch irgendwann“ ein Bus nach Vetschau fährt und nimmt lieber ein Taxi auf eigene Kosten. Sandra Dassler kommt mit dem Rufbus nach Hause. Das Chaos bei der Bahn geht auch am Sonnabend weiter.

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