Flüchtlinge in Berlin: Immer mehr Tabus der Flüchtlings-Unterbringung gebrochen
Flüchtlinge im ICC? Unzumutbar. Quartiere auf dem Tempelhofer Feld? Ungeeignet. So lauteten die Reaktionen vor einem Jahr. Doch mit der Zahl der Flüchtlinge wächst auch die Bereitschaft, Tabus zu brechen. Eine kurze Geschichte der Fehleinschätzungen.
Der Kreistagsabgeordnete Matthias Stefke aus Teltow-Fläming schlug im Februar vor, den fluguntauglichen BER als Flüchtlingsunterkunft zu nutzen. Der Vorschlag blieb im Getöse der Flüchtlingsdebatte ohne weitere Beachtung. Vielleicht wird man sich bald an Stefkes betörend simple Idee erinnern.
Mit den stetig wachsenden Flüchtlingszahlen sind zunächst abwegig erscheinende Vorschläge von gestern vielleicht die pragmatischen Lösungsansätze von morgen. Am Freitag wurde das Tabu Tempelhofer Feld gebrochen. Der Senat bereitet ein „Gesetzespaket zur Vermeidung von Obdachlosigkeit“ vor, ein Teil davon bezieht sich auf den Bau von Flüchtlingsunterkünften auf dem Feld, das eigentlich frei von jeder Bebauung bleiben sollte.
Die Idee, das Tempelhofer Feld zu nutzen, äußerte vor einem Jahr der ehemalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU). Die Reaktionen fielen ernüchternd aus. Sozialsenator Mario Czaja (CDU) ließ erklären, seine Verwaltung habe geprüft und das Feld für ungeeignet erklärt. Diepgen hatte noch einen Vorschlag: das leerstehende ICC. Wieder wurde geprüft, diesmal von der Wirtschaftsverwaltung.
Kein ernst gemeinter Vorschlag?
Die Aufsichtsbehörden hätten „wegen gefährlicher Schadstoffbelastungen schon den temporären Aufenthalt für Besucher untersagt“. Eine dauerhafte Unterbringung käme schon gar nicht in Frage. Die SPD-Vizefraktionschefin Ülker Radziwill erklärte entrüstet: „Der Vorschlag kann nicht ernst gemeint sein.“ Es existiere doch gar keine Betriebsgenehmigung mehr.
Schnee von gestern. Das asbestverseuchte ICC wird Flüchtlingsunterkunft, genau wie die ebenfalls asbestbelastete ehemalige Poelchau-Schule in Charlottenburg-Nord. Dort sind seit vergangener Woche 300 Flüchtlingsfamilien untergebracht. Eigentlich soll die Schule abgerissen werden.
Mittlerweile prüft der Senat auch, Behörden ohne Einverständnis der Eigentümer Zugang zu Immobilien zu ermöglichen. Dies soll vor allem auf dringend benötigte größere Gewerbeimmobilien abzielen. Noch am 8. Oktober hatte Senator Czaja erklärt: „Wir müssten zunächst alle landeseigenen Immobilien prüfen, bevor von privaten Eigentümern Wohnungen sichergestellt werden.“
Nicht immer neue Notlösungen
Das bedeute, dass Berlin in jeder Turnhalle, jeder Schule, jedem Bunker, jeder leerstehenden U-Bahn-Station Flüchtlinge unterbringen müsste, „bevor auch nur eine einzige Privatwohnung beschlagnahmt werden könne“. An dieser Einschätzung halte er fest, erklärte Czaja am Freitag.
Friedrichshain-Kreuzberg hat am Freitag zwei weitere Schulturnhallen als Notunterkünfte freigegeben. Die Mitteilung ist sachlich gehalten, kein Wort der Kritik. Anfang 2015, als das Lageso erstmals eine größere Zahl von Turnhallen als Notquartier angefordert hatte, regte sich noch scharfer Protest. Der Bürgermeister von Mitte, Christian Hanke (SPD), forderte das Lageso damals auf, endlich „alle räumlichen Ressourcen zu nutzen und nicht jeden Monat neue Notlösungen zu präsentieren.“ So allerdings ist es eindeutig nicht gekommen.