Askanischer Platz: Im verschollenen Bahnhofsviertel
Der Askanische Platz war ein Brennpunkt großstädtischen Lebens: Von hier aus ging es per Fernzug in den sonnigen Süden. In den umliegenden Hotels logierten bekannte Künstler. Seit dem Mauerfall kehrt das Flair allmählich zurück
Am Askanischen Platz erfüllte sich die Stadtverwaltung im Jahr 1863 einen lang gehegten Traum. Sie errichtete einen kleinen Eisenpavillon mit Glasdach, das erste öffentliche Pissoir der Hauptstadt. Er bot Platz für zwei Männer, die Frauen mussten noch ein paar Jahre auf den Fortschritt warten.
Warum am Askanischen Platz? Heute gibt es dort keine Bedürfnisanstalt mehr, nur notdürftig gepflegte Grünanlagen. Früher muss sehr viel mehr los gewesen sein. Die Stadtverwaltung legte Wert auf ein freundliches Erscheinungsbild, denn der Askanische Platz war einer der Orte, wo Berlin Reisende empfing. 1841 hatte die Berlin-Anhaltinische Eisenbahn-Gesellschaft einen Kopfbahnhof in Betrieb genommen, drei Jahre nach der allerersten Bahnhofseröffnung am Potsdamer Platz. Der Anhalter Bahnhof entwickelte sich im 19. Jahrhundert zum größten, schönsten und wichtigsten Berlins.
Die Eisenbahn sprengte die Dimensionen der bisherigen Stadt. Vor dem Bau des Anhalter Bahnhofs war Berlin entlang der Stresemannstraße, die heute den Askanischen Platz tangiert, zu Ende. Hier verlief nur eine steinerne Zollmauer zwischen Gärten. Die neue Bahnlinie ins Fürstentum Anhalt endete vor der Zollgrenze. Damit Waren und Menschen in die Stadt gelangen konnten, musste ein Tor gebaut werden. Der neue Verkehrsknoten bekam 1844 den Namen Askanischer Platz, eine Reminiszenz ans Fürstengeschlecht der Askanier. Der askanische Markgraf Albrecht der Bär hatte im Mittelalter die Mark Brandenburg gegründet. In Anhalt herrschten askanische Herzöge noch bis zur Novemberrevolution von 1918. Der Name Askanischer Platz erinnert an das dynastische Band zwischen Start- und Zielregion der neuen Bahnlinie.
Die heutige Stresemannstraße hieß seit 1867 Königgrätzer Straße, zur Erinnerung an den preußischen Sieg über Österreich im Vorjahr. Fontane-Leser wissen, dass der Dichter seine Heldin Effi Briest nach dem sozialen Absturz dorthin ziehen lässt, in eine kleine Wohnung mit Blick hinten hinaus auf die Bahnanlagen. 1930 wurde die Straße nach dem Politiker und Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann benannt. Die Nazis feierten 1935 den Wiederanschluss des Saarlandes ans Deutsche Reich durch die Umbenennung in Saarlandstraße, seit 1947 heißt sie wieder Stresemannstraße. Das politische Tauziehen verrät, dass der Bahnhofsvorplatz auch ein Raum für politische Repräsentation gewesen ist. Er diente nicht nur als Empfangssalon der Metropole, sondern auch des Deutschen Reiches.
Nach dem Aufstieg Berlins zur Reichshauptstadt musste der bescheidene Bahnhof der Anfangsjahre einem Bau der Superlative weichen. Der erhaltene Backsteinportikus zeigt die Sorgfalt der Ausführung, gibt aber trotz seiner stattlichen Höhe keinen wirklichen Eindruck von den Dimensionen des Bahnhofs. Die 1880 eingeweihte Halle war mit über 60 Metern Spannweite auf einer Länge von 170 Metern die größte auf dem europäischen Kontinent. Sie reichte über den heutigen Sportplatz hinter der Portalruine fast bis zum Tempodrom, das mit seinem Betonzeltdach in den Himmel piekt.
Für die technische Meisterleistung zeichnete der Ingenieur und Schriftsteller Heinrich Seidel verantwortlich. Die architektonische Ausformung des Riesenbaus übernahm Franz Schwechten, der spätere Lieblingsarchitekt Kaiser Wilhelms II. und Baumeister der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Die Architekturkritiker begeisterten sich für die klaren Linien des Monumentalbaus. Er war die Krönung des die ganze Stadt durchpulsenden Schienennetzes, in seiner symbolischen Strahlkraft vergleichbar mit dem neuen Hauptbahnhof im Spreebogen. Der Anhalter Bahnhof lag ähnlich nah am Regierungsviertel, dessen Mittelachse bis 1945 die Wilhelmstraße mit der Reichskanzlei, dem Reichspräsidentenpalais und etlichen Ministerien bildete.
Im Anhalter Bahnhof begrüßte der Kaiser 1889 den italienischen König Umberto I. und 1913 den russischen Zaren. Zu solchen Anlässen wurde der Askanische Platz immer festlich herausgeputzt. Auch die Berliner liebten den Bahnhof, weil dort die Fernzüge in den sonnigen Süden abfuhren. Walter Benjamin nannte ihn die „Mutterhöhle der Eisenbahnen, wo die Lokomotiven zu Hause sein und die Züge anhalten mussten. Keine Ferne war ferner, als wo im Nebel seine Gleise zusammenliefen.“
Am Askanischen Platz trafen sich die Straßen eines typischen Bahnhofsviertels mit Durchgangsverkehr, Läden und Cafés. Auf den Bänken vor dem Bahnhof warteten Arbeits- und Obdachlose auf eine Chance. In einem Frühlingsgedicht ließ sie Joachim Ringelnatz 1923 zu Wort kommen: „Und morgen werden wir sehen, wo wir bleiben. / Da werden sie uns auseinandertreiben / Wie die Pferdeäppel auf’m Asphalt / Ob es wohl wahr ist, wenn man noch lebt – dass man / Seine Knochen an die Akademie verkaufen kann?“
In den Hotels um den Bahnhof logierten Touristen, Geschäftsleute und Künstler. „Gerichtshof im Hotel“ notierte Franz Kafka in sein Tagebuch, nachdem er 1914 im „Askanischen Hof“ an der Königgrätzer Straße 21 seine Verlobung mit der Berlinerin Felice Bauer gelöst hatte. Im „Habsburger Hof“ am Askanischen Platz 1 wohnte im März 1928 Joseph Roth, im „Excelsior“ stieg 1926 Thomas Mann ab. Der graue Betonklotz des Excelsior-Hochhauses an der Stresemannstraße erinnert dem Namen nach an das 1908 eröffnete Großhotel. Seit 1928 war das „Excelsior“ durch Lifte und einen unterirdischen Tunnel mit der Bahnhofshalle auf der anderen Platzseite verbunden.
Im selben Jahr erschien eine Delegation der NSDAP bei der Hoteldirektion, um eine Zimmerflucht zu reservieren. Bis zur Machtübernahme wollte Hitler hier sein Hauptquartier aufschlagen. Der Hoteldirektor Curt Elschner weigerte sich und wurde nach 1933 von den Nazis schikaniert. NSDAP-Mitgliedern war es verboten, bei ihm abzusteigen. Den Anhalter Bahnhof nutzte die Nazipropaganda gern als prächtige Kulisse. Dort ließ sich Hitler nach der Kapitulation Frankreichs im Juli 1940 als siegreicher Heimkehrer vom Kriegsschauplatz feiern.
Für viele Emigranten war der Askanische Platz der letzte Ort, an dem sie Berliner Straßenpflaster unter den Sohlen spürten. Am 28. Februar 1933, dem Tag nach dem Reichstagsbrand, entzog sich Bertolt Brecht der Verhaftungswelle durch die Abreise vom Anhalter Bahnhof nach Prag. Ab dem Jahr 1942 wurden 9600 jüdische Mitbürger vom Anhalter Bahnhof in Konzentrationslager deportiert. Es geschah vor aller Augen: Die Waggons 3. Klasse mit dem Bestimmungsort Theresienstadt wurden an fahrplanmäßige D-Züge nach Dresden angehängt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Askanische Platz einer Trümmerwüste. Bomben hatten das Hallendach des Anhalter Bahnhofs zerstört. In der Ruine verkehrten weiterhin Züge, bis 1952 die Deutsche Reichsbahn den gesamten Verkehr auf Bahnhöfe in Ostberlin umleitete. Ab 1960 wurde der Anhalter Bahnhof abgerissen, einzig der Portikus blieb stehen. Seit dem Mauerbau lag der Askanische Platz in einem toten Winkel am Stadtrand von Westberlin. Zwei Jahrzehnte später rückte er durch die Internationale Bauausstellung und die 750-Jahr- Feierlichkeiten wieder ins Blickfeld der Stadtplaner. Der nahe Martin-Gropius- Bau war 1987 Schauplatz einer großen stadthistorischen Retrospektive und auf dem Bahnhofsareal wurde in einer Freiluftausstellung der „Mythos Berlin“ nachinszeniert.
Zwanzig Jahre nach der Maueröffnung ist der Askanische Platz wieder ein Eingangstor in die historische Mitte. Neu eröffnete Hotels ziehen Touristen an, der Neubau des Tempodroms die Nachtschwärmer. Baulücken sind durch Büro- und Geschäftshäuser geschlossen, allein das prickelnde Flair eines rund um die Uhr pulsierenden Großstadtplatzes hat sich noch nicht wieder eingefunden.
Stumme Zeugen des früheren Glanzes sind zwei kantige Bauten aus den 20er Jahren an der Stresemannstraße: Das Deutschlandhaus soll künftig das „Zentrum gegen Vertreibungen“ aufnehmen und im Europahaus residiert das Entwicklungshilfeministeriums. Als Bürohochhaus und Amüsierpalast wurde es gebaut, ganz oben befand sich ein Dachcafé. Nachts wirkte der Bau durch seine Lichtarchitektur erst recht imposant. Rechts schloss sich das „Münchner Hofbräu“ an, im Innenhof des Deutschlandhauses befand sich ein Filmpalast. Allabendlich strömten Zehntausende zum Askanischen Platz, um sich zu vergnügen. Einen Hauch dieser Vergangenheit spürt man im Café Stresemann, wo die expressionistische Holzvertäfelung des „Mokka Express“ wunderbarerweise erhalten blieb. Vor den großen Fenstern fließt der Verkehr. Gut zu wissen, dass die Zeitung auf dem Kaffeehaustisch in Zukunft gleich gegenüber entsteht.