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Gleich geht's los! Am Stettiner Bahnhof sammeln sich Berliner Strohwitwer, um übers Wochenende zur Frau an die Ostsee zu fahren.
© Berliner Leben

Fraktur! Berlin-Bilder aus der Kaiserzeit: Im Strohwitwerzug

So war das 1904: Die Frauen sind auf Usedom, die Männer müssen arbeiten. Und werfen sich sonnabends um 18 Uhr in die Bahn - für einen Kurzbesuch am Strand.

Der Weg in die Sommerfrische an die Ostsee trennt Familie und Liebende. Sie fährt fort, und er bleibt da, die verdammte preußische Pflicht, sie gibt dem Mann kein Hitzefrei, und bezahlte Urlaubstage bekommt – abgesehen von Staatsdienern – kaum ein Arbeitnehmer. So heißt es auch im August 1904 Abschied nehmen von Gemahlin oder Verlobter, die es an den Strand zieht zum Vergnügen, während die Männer einsam in der Steinwüste Berlin zurückbleiben – abgesehen von heimlichen Vergnügen, die gelegentlich in schwülen Sommernächten und besonders, wenn die Aufsicht fehlt, selbst das starke Geschlecht schwach werden lassen.

Nur wenige Stunden haben die Herren, um am Wochenende bei einem Kurzbesuch an der Ostsee die sittliche Ordnung wiederherzustellen. Die Deutsche Reichsbahn hat eigens dafür in den Sommermonaten durchgehende Schnell- und Eilzugverbindungen von Berlin nach Usedom eingerichtet, im Volksmund „Strohwitwerzüge“ genannt.

Die Zeitschrift „Berliner Leben“ schildert in der August-Ausgabe 1904, wie die Kurzurlauber auf die Reise gehen. Wir zitieren den Originaltext: „Während der Badesaison fährt vom Stettiner Bahnhof jeden Sonnabend um 6 Uhr nachmittags herum ein Zug ab, der eine ganz besondere Physiognomie hat; seine Passagiere gehören nämlich fast ausschließlich dem stärkeren Geschlecht an. Sie rekrutieren sich sämtlich aus dem vergnüglichen Stande der Strohwitwer, und es ist für den vom gleichen Los nicht Betroffenen höchst amüsant, die verschiedenen Grade von Schnelligkeit und Eifer zu beobachten, mit dem sie dem Beförderungsmittel zustreben, das sie ihrer am sonnendurchglühten Ostseestrande weilenden besseren Hälfte zuführen soll.

Oh Schreck! Schnell den Ehering zurück an den Finger

Man erblickt da junge Männer, bepackt mit einem riesigen Strauß und tausend Schachteln und Paketen, die sie fortwährend zählen, ungeduldig die Zugverspätung verwünschen, die jeder normale preußische Eisenbahnzug schon auf der Abgangsstation haben muss, weil sie das Wiedersehen mit dem geliebten Weibchen um so viele Minuten verzögert. Man sieht auch andere, die sich mürrisch in eine Coupéecke werfen und verdrießlich an die lange Nachtfahrt im überfüllten Zuge und die Anstrengungen des kommenden Tages denken. Plötzlich fahren sie erschreckt zusammen und fassen in die linke Westentasche, wo das Symbol ihrer Gefangenschaft seit der Abreise der teuren Gattin ein verschwiegenes Dasein gefristet hat, und mit wehmütigem Seufzen stecken sie den Goldreifen an den Finger. Diese Kategorie ist besonders dadurch kenntlich, dass sie, über die erste Jugend heraus, sich einer beträchtlichen Leibesfülle erfreut, und in der Kunst, die letzten Überreste ihres ehemaligen Haupthaares so zu ordnen, dass es aussieht, als ob sie noch mehr hätten, die höchste Vollkommenheit erreicht haben.

Aber der Zug geht endlich ab, nachdem sämtliche Beamte auf geheimnisvolle Weise eine zeitlang umhergerannt sind, zusammengekommen und wieder auseinandergelaufen sind. In diesem Augenblick will der junge Ehemann, den wir schon eine Weile mit Besorgnis beobachtet haben, aus dem Coupé stürzen; ihm ist plötzlich eingefallen, dass er den neuen Hut, den ihm sein geliebtes Weibchen so auf die Seele gebunden, im Wartesaal hat liegen lassen. Aber seine Mitreisenden reißen ihn rechtzeitig zurück und er setzt seine Fahrt fort, ebenso niedergeschlagen wie er vorher ungeduldig war, während ihm ein älterer, listig blinzelnder Herr Ratschläge erteilt, wie man eine schmollende Gattin besänftigt.“

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit lesen Sie unter: www.tagesspiegel.de/fraktur

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