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Vor zwei Jahren hat Can Sungu, 33, den Projektraum Bi'Bak gegründet, Türkisch für "Schau mal".
© Susan Djahangard

Gentrifizierung in Berlin-Gesundbrunnen: Im Soldiner Kiez tut sich was

Vor wenigen Jahren galt der Soldiner Kiez als Hinterzimmer der Hauptstadt. Heute entstehen dort neue Kulturräume und Restaurants.

Das Hinterzimmer der Hauptstadt, ein abgehängtes Viertel. Wer es sich leisten kann, zieht weg. So wurde der Soldiner Kiez noch 2010 in dieser Zeitung beschrieben. Auch ein dramatischer Vorfall ging im August durch die Presse: Ein polizeibekannter 11-jähriger hatte in einem offenen Auto den Motor gestartet, als die Polizei anrückte, stellten sich ihr 70 Männer entgegen.

Ein Anruf bei Cornelia Cremer, sie leitet dort das Quartiersmanagement. Frau Cremer, sind Sie heute noch im Hinterzimmer? Frau Cremer lacht. Nee, nee. "Als ich den Job hier bekommen habe, habe ich auch gedacht: Das ist ja ganz schön im Norden!" Cremer, 63, wohnt in Wilmersdorf. "Aber die Kriminalität hat sich irre beruhigt", sagt sie. Heute sei der Soldiner ein Kiez im Aufbruch. "Die Geburtenrate steigt, viele junge Menschen ziehen hier hin." Mit ihnen kommen neue Projekte.

In einem Hinterhof auf der Prinzenallee blühen auch im Oktober noch gelbe Blumen in einer alten Badewanne.
In einem Hinterhof auf der Prinzenallee blühen auch im Oktober noch gelbe Blumen in einer alten Badewanne.
© Susan Djahangard

Also ab in die U9 bis zur Endstation, die Osloer Straße runter, links geht es in die Prinzenallee. Auf den Boden in einen Hauseingang hat jemand mit blauer Farbe "Welcome" gemalt. In einer alten Badewanne im Hinterhof wachsen auch im Oktober noch gelbe Blumen, die Blätter an den Bäumen haben sich leuchtend rot gefärbt. Eine Radfahrerin, grüne Warnweste, Helm und Stirnband, kommt angefahren. Sie produziert in einem Atelier im Erdgeschoss Kleidung. "Zu eher niedrigen Preisen", sagt sie. Ein Kleid koste weniger als hundert Euro. Die Frau wohnt in Kreuzberg, das Viertel hier erinnere sie an ihren Kiez vor 20 Jahren. "Vom Grad der Gentrifizierung her, von den Leuten, die hier leben", sagt sie.

Ein Treffpunkt für alle: junge Mütter, Gastarbeiter, die alte Frau Lehmann

Aus dem Hauseingang raus, durch die Nebenstraßen der Prinzenallee. Hier leben viele verschiedene Menschen. Zwei ältere Herren mit Schnäuzern, die sich vor einer Haustür unterhalten. Vor 30 Jahren kamen sie aus der Türkei und den palästinensischen Gebieten, haben beim Bäcker in Spandau und in der Textilfabrik geschuftet. Frau Lehmann mit der grauen Dauerwelle, die auch geschuftet hat, in der Zigarettenfabrik, und als Rentnerin bei einem Kaffee in der Bäckerei über die Ausländer schimpft. Die Geflüchteten, die in einer alten Grundschule wohnen. Und die junge Mutter, die vor drei Jahren aus Kreuzberg hier hin zog, weil sie sich eine Wohnung dort nicht mehr leisten konnte, mittlerweile zwei kleine Kinder hat und einen Kombi fährt.

Bei Kinoabenden, Workshops und Abendessen sollen im Projektraum Bi'Bak Bewohner aus dem Soldiner Kiez ins Gespräch kommen.
Bei Kinoabenden, Workshops und Abendessen sollen im Projektraum Bi'Bak Bewohner aus dem Soldiner Kiez ins Gespräch kommen.
© Susan Djahangard

Wieder auf der Prinzenallee fällt ein grün gerahmtes Schaufenster auf, es gehört zum Projektraum Bi’Bak, Türkisch für "Schau mal!". Im Fenster hängt ein Poster, auf dem ein Mann in Lederjacke und Sonnenbrille lässig an einem Kleinbus lehnt. Drinnen sitzen Can Sungu, 33, und Malve Lippmann an einem großen Holztisch vor ihren MacBooks. Vor zwei Jahren haben sie Bi’Bak gegründet. Sie veranstalten Kinoabende, Workshops und Abendessen, immer geht es um Migration und Mobilität. "Bei uns treffen sich Leute aus verschiedenen Kulturen", sagt Sungu, Vollbart, Ohrring, Kapuzenpulli. Hier sollen Menschen ins Gespräch kommen, die sich sonst nicht begegnen würden. Die Schnäuzer-Herren, Frau Lehmann, die Geflüchteten, die junge Mutter.

Klappt das? Bisher kämen vor allem junge Menschen, die meisten aus dem Kiez, viele neu zugezogen. Aber auch das türkischstämmige Publikum fühle sich angesprochen, erzählt Sungu, der selbst aus der Türkei kommt. Vor kurzem haben sie eine Ausstellung organisiert in einem Ford-Transit, der in verschiedenen Kiezen Halt gemacht hat. Thema war die Gastarbeiterroute zwischen Berlin und Istanbul. "Viele hat das an ihre eigenen Erfahrungen erinnert", erzählt er.

Die Miete war zu hoch, deshalb sind sie in Prenzlauer Berg geblieben

Aber nicht alle im Kiez reagieren so positiv auf das neue Projekt. Einmal sei eine Frau ins Bi’Bak gekommen, erzählt Betreiberin Lippmann, die habe ihnen vorgeworfen: Ihr seid die bösen Gentrifizierer! "Das stimmt nicht, wir machen Kultur", sagt Lippmann. "Wir verkaufen nichts", ergänzt Sungu. Auch keinen Latte Macchiato für vier Euro. Natürlich verändere sich der Kiez, aber Angst vor Veränderung müsse nicht sein, sagt er. Die Kehrseite bekommen sie aber auch selbst mit. Lippmann wäre mit Mann und Kind gerne hier hin gezogen. Im Haus des Projektraums war eine Wohnung frei, für 12 Euro pro Quadratmeter. "Das konnten wir uns nicht leisten", sagt sie. Deshalb sind sie in Prenzlauer Berg geblieben.

Die steigenden Mieten machen vielen im Kiez Sorgen. Alteingesessene, aber auch neu Zugezogene hätten Angst vor Verdrängung, heißt es beim Quartiersmanagement. Höhere Mieten können sich viele hier kaum leisten: Bis heute sind viele Bewohner, trotz der Veränderungen, auf Hartz IV angewiesen. Zwei von drei Kindern leben in Armut. Jess Schmidt, 34, will diese Kinder unterstützen. Sie ist dabei, einen Verein zu gründen für Kindern aus sozial schwächeren Familien. Damit will sie den Kindern aus dem Soldiner Kiez zum Beispiel Sommercamps am Werbellinsee in Brandenburg ermöglichen.

Die 34-Jährige, die eigentlich Filme drehen wollte, ist eine von zwei Inhaberinnen der Kakadu Community Kitchen. Im Februar haben sie eröffnet, ähnlich wie das Bi’Bak soll auch das Kakadu ein Treffpunkt für das ganze Viertel sein. "Viele Leute haben unseren Kiez als ein bisschen tot empfunden", sagt Schmidt. "Hier gab es ja nicht mal was Leckeres zu essen."

Die Alten wollen sehen, was die Jugend aus den Räumen gemacht hat

Mit einer Bekannten hat sie die Räume eines ehemaligen Dönerladens gemietet, ganz früher war hier eine Fleischerei. Zwei Jahre haben sie die alten Kacheln von der Wand geschlagen, den Laden schick gemacht. Das Geld dafür hat Schmidt in der Kneipe Kugelbahn um die Ecke verdient. Auf der Speisekarte soll jeder was finden, es gibt Gerichte mit Fleisch, vegetarisch oder vegan, viel regional, aber auch "international gewürzt". Dazu organisieren sie Kochshows und Ausstellungen. "Zu uns kommen Menschen aus allen Schichten und Altersklassen", erzählt sie, auch Alteingesessene, die früher beim Fleischer eingekauft haben und jetzt wissen wollen, was die Jugend aus den Räumen gemacht hat.

Der Verein Gourmello verkauft Lampen, die eine Designerin aus alten Einmachgläsern fertigt.
Der Verein Gourmello verkauft Lampen, die eine Designerin aus alten Einmachgläsern fertigt.
© Susan Djahangard

In der Nähe des Kakadu sitzen Bauarbeiter an den Tischen einer türkischen Bäckerei und essen Börek. Daran vorbei, die Soldiner Straße runter. In einem Schaufenster in der Grüntaler Straße hängt ein Einmachglas mit Glühbirne, auf dem Glasboden lässt eine winzige Mädchenfigur einen Drachen steigen. Der Raum gehört zu Gourmello, den Verein hat Sabina Bronszkowska vor sechs Jahren mit ihrem nigerianischen Partner gegründet.

Angefangen haben sie als gesunder Caterer für Kitas. "Wir kochen wie die Muttis selbst", sagt sie. Leere Gläser, die in der Küche übrig bleiben, verarbeitet mittlerweile eine Designerin. "Wir machen Upcycling", sagt Bronszkowska. Die Produkte werden auf Märkten und im Internet verkauft, die Lampen im Schaufenster kosten, je nach Größe, zwischen 20 und 140 Euro. Auch das Gourmello-Team will die Kiez-Gemeinschaft fördern. Es gibt Workshops zu gesunder Ernährung und das "Kochen um die Welt", bei dem Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen kochen und essen. Auch Bronszkowska erzählt, dass Menschen aller Altersgruppen kommen, Frauen und Männer.

Wer sind diese "Mitbewohner"?

Auf dem Rückweg zur U-Bahn ein Späti mit großer Türkeifahne im Schaufenster. Der Mann, der hinter dem Tresen Lottoscheine scannt, ist hier aufgewachsen. "Das ist mein Kiez", sagt er. Der habe sich sehr verändert. Zu viele Menschen seien mittlerweile hier, seine Miete sei stark gestiegen. Er lebt mit seiner pflegebedürftigen Mutter in der Wohnung, in der er aufgewachsen ist. Fast jeden Tag verkauft er im Späti, oft auch am Wochenende. Er wundert sich über seine neuen Kunden: "Hier kommen mittlerweile ständig Leute und holen ein Paket für ihre Mitbewohner ab", sagt er. "Die wohnen alle zusammen in einer Wohnung, sind aber gar nicht von derselben Familie."

Den Projektraum Bi’Bak hat der Verkäufer schon mal gesehen, drin war er bisher nicht. Vielleicht hat er ja beim nächsten Filmabend Lust. Dann könnte er die neuen Kiezbewohner Mal in Ruhe treffen.

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