Berliner Sprayer: Im Farbrausch
Für die Polizei ist es Sachbeschädigung, für die meisten Menschen blöde Schmiererei, für Sprüher wie Tim ist es das Leben: Eine Million Mal, sagt er, hat er sein Zeichen an Berlins Wänden hinterlassen.
Manchmal glaubt Tim, dass Berlin nur für ihn gebaut wurde. Wer Tim sieht, muss denken, Tim spinnt. Er ist Mitte 20, sein schmaler Körper steckt in einer bunten Baseballjacke, seine Füße in abgelaufenen Nikes. Spätestens am Nachmittag klemmt ihm der erste Joint zwischen den Lippen. Ein Crashkid sei er gewesen, sagt Tim, einer, der immer alles an die Wand gefahren hat. Wie kommt so einer auf den Gedanken, man habe Berlin für ihn gebaut?
Man muss sich einen Moment neben Tim setzen, um ihn zu verstehen. Auf die abgewetzte U-Bahn-Bank, Linie 1, Richtung Uhlandstraße, in einen dieser Züge, die über die alte Hochbahntrasse rattern, links und rechts Kreuzberg. Man muss Tims Perspektive einnehmen, wenn er durch die Scheiben sieht, auf denen kleine, weiße Brandenburger Tore kleben. Und auf einmal ist das gar nicht mehr so abwegig: Zu denken, Berlin sei für ihn gebaut worden. Denn Tim ist überall, die Häuserwände sind seine Spiegel, ganz Kreuzberg sein Spiegelkabinett. Tim, Tim, Tim, steht da, aber nur Eingeweihte können es lesen, denn geschrieben ist da kein Vorname, sondern ein Pseudonym: „1UP“.
Tim ist Sprüher, und „1UP“ ist sein Auftrag. Ein Auftrag, den er sich selbst gegeben hat. „1UP“ steht für „One United Power“, und die drei Zeichen sind Tims Leben. Nähme man ihm die „1“, das „U“ und das „P“, ihm bliebe auf diesem Planeten nicht mehr viel. Jedes Mal, wenn Tim auf den Sprühkopf drückt, klatscht er einen Teil von sich selbst an die Wand. Sachbeschädigung, schon klar. „Aber“, fragt Tim, „was ist mit denen, die überall ihre grauen Betonklötze hinklatschen?“ Für Tim ist beides Selbstverwirklichung auf Kosten anderer.
Natürlich weiß er, dass er Straftaten begeht. Mehr als einmal saß er mit hängendem Kopf auf der Polizeiwache, mehrfach musste er Ordnungsgelder bezahlen, zusammengerechnet dürften es 2000 Euro gewesen sein, genau weiß er es nicht mehr, Zahlen interessieren ihn nicht. Tim wollte sich das Sprühen nicht nehmen lassen. Die es ihm verbieten wollen, sind ihm suspekt. Die, das ist die Mehrheitsgesellschaft, das sind Leute, die am Tag leben. Tim lebt nachts. Was er haben will, nimmt er sich, anders kennt er es nicht. Er ist in seiner Jugend stehen geblieben, könnte man sagen, in der Trotzphase. Er kann sich nicht in den Hausbesitzer hineinversetzen, so fremd ist der ihm.
Tim ist sich treu geblieben, könnte man auch sagen. Der Außenseiter, der Abgehängte, der Schulversager, der immer wieder beim Klauen erwischt wurde, der Jahre im Kinderheim verbracht hat. Diese Welt hat ihm nichts geschenkt. Für ihn war nie eine Bühne vorgesehen, also hat er sich selbst eine geschaffen: Wände, Brandmauern, Dächer, Züge, Stromkästen. Seine Bühne ist Berlin.
Wenn Tim sich selbst verwirklicht, bewegt er den ganzen Körper, schnell, aber gleichmäßig, es ist wie ein Tanz. Er geht in die Knie, um eine Linie bis runter aufs Pflaster zu ziehen, er stellt sich auf die Zehenspitzen, um den oberen Bogen des „P“ zu sprühen, der bis zum Fensterbrett im Hochparterre reicht. Tims Buchstaben sind größer als er selbst.
„1UP“. Er hat diese drei Zeichen so oft gesprüht, dass er es mit geschlossenen Augen tun könnte. Aber das geht nicht, denn er muss seinen Kumpel im Auge behalten, den Schmieresteher im gelben Licht der Straßenlaterne. Kommt ein Auto, fuchtelt der mit den Händen. Wenn das Auto langsam fährt, könnten Zivilpolizisten drin sitzen. Tims Atem geht schnell, seine Fingerknöchel zeichnen sich durch die dünnen Gummihandschuhe ab. Über den Kopf hat er eine schwarze Sturmhaube gezogen, durch deren Wolle er zerstäubten Lack inhaliert. Für Tim riecht die Nacht nach Farbe.
Zwei Minuten braucht Tim, um Berlin ein weiteres Selbstporträt zu spendieren. Immer, wenn das Zischen verstummt, ist er glücklich, ein kurzer Moment, der ihm gehört. Er greift nach dem Lenker seines schwarzen Rennrads und ist weg. Die Buchstaben bleiben, sie sind silbern, ihr Rand ist rot. Am nächsten Tag werden die Leute daran vorbeilaufen, auf dem Weg zur Schule, zum Zeitungskiosk oder zur Arbeit.
Tim und die anderen Mitglieder von „1UP“ sind meistens zwischen drei und sechs Uhr morgens auf Tour, meist mit dem Fahrrad, immer mit einem Rucksack voller Sprühdosen. Es gab Wochen, da waren sie jede Nacht unterwegs. Am liebsten benutzen sie Silber, das deckt am besten und leuchtet, wenn über Kreuzberg die Sonne scheint.
Heute ist so ein Tag, über den Dächern mit den nach Osten ausgerichteten Satellitenschüsseln steht eine schräge Abendsonne. Tims Schriftzüge leuchten. Er läuft durch seinen Kiez, alle paar Meter zeigt er mit dem Finger in irgendeine Richtung und sagt: „Das ist von uns“, oder „Das haben wir letztens gemacht“, oder „Das ist auch cool, aber das sieht man von hier nicht so gut“. Die Bilder auf den Dächern sieht man immer, Altbau, fünfter Stock, kein Baum ist so hoch, dass er sie verdecken könnte. Um ein Dachbild zu malen, kraxelt Tim die Schräge runter, dann laufen seine Turnschuhe über Ziegel und Dachpappe. Damit er nicht abstürzt, knotet er sich ein Seil um den Bauch. Ein Kollege sichert ihn – soweit das geht. In beiden Köpfen ist der Fluchtweg eingebrannt, der über fünf angrenzende Dächer führt.
Tim war zehn, als er das erste Mal beim Sprühen erwischt wurde. Damals hatte er ein Strichmännchen an einen Bauzaun gemalt. Er erinnert sich: „Ein Bulle rief: Stehen bleiben! Und ich bin stehen geblieben.“ Auf der Polizeiwache haben sie ihm damals alle Sprühdosen weggenommen. Es hat nichts genutzt. Später kamen Strafzahlungen dazu, auch das hat ihn nicht abhalten können. Das bisschen Geld war nichts, verglichen mit dem, was er und seine Leute in Sprühdosen investieren. Gemeinsam haben sie 50 000 Dosen versprüht, schätzt Tim, für vier Euro das Stück. Teuer erkaufte Berühmtheit.
Der Ruhm in der Szene ist kalkulierbar, er tritt ein, sobald eine kritische Masse erreicht ist. Bei „1UP“ ist das längst der Fall, überall kann man den Schriftzug sehen, er ist eine Marke geworden. Tim und seine Kollegen gehören zu den Großen in Berlin, lange waren sie unter den aktivsten Sprühern der Stadt. „Wir waren most wanted“, sagt Tim stolz.
„1UP“ gibt es nur nachts, tagsüber sind die Mitglieder der Crew Bäcker, Kameramänner, angehende Lehrer. Etwa zehn Männer und drei Frauen sind sie, alle zwischen 20 und 30 Jahre alt. Keine mit Butterfly-Messern in der Jeanstasche, keine, die Omas überfallen. „Wir machen positives Zeug“, sagt Tim. Es ist Ansichtssache. Es gibt Videos, da stürmen sieben von ihnen einen U-Bahnhof in Zehlendorf, mit ihren schwarzen Masken sehen sie aus wie ein Terrorkommando. Sie ziehen die Notbremse, damit der Zugführer eine Zwangspause einlegen muss. Innerhalb der nächsten zwei, drei Minuten sprühen die Maskierten literweise Farbe an die U-Bahn. Die Fahrgäste können nur apathisch zugucken, wie die Fensterscheiben vor ihren Augen blind werden. Es ist gespenstisch. Als der Polizeiwagen mit einer Vollbremsung vor dem Bahnhof hält, sitzt Tim im Gebüsch auf der anderen Straßenseite. Er filmt.
Tim ist es wichtig, seinen Kiez mitzugestalten. Aber unter seinen Bedingungen. Den bürokratischen Weg will er nicht gehen, er will keine Formulare ausfüllen, um vielleicht irgendwo legal eine Wand besprühen zu dürfen. Er hat das zwar noch nie probiert, aber er stellt sich die Prozedur anstrengend vor. Wenn er ehrlich ist, interessiert sie ihn auch nicht. „Wir wollen das einfach frei machen, Woodstock-Style. Wir wollen malen, ohne jemanden fragen zu müssen.“ Manchmal überkommt es ihn einfach, wenn er besoffen ist. „Dann läuft da ganz schnell eine schwarze Linie über ein ganzes Haus.“ Destroy-Line sagen Sprüher dazu. Vielleicht ist es das ehrlichste Statement, das man an eine Wand malen kann. Es bedeutet nichts, höchstens „Fuck you!“
Tim denkt nicht ans Morgen. „Es geht darum, jetzt eine geile Zeit zu haben.“ Wenn Tim ein bisschen rauszoomt, sein bisheriges Leben auf einem Zeitstrahl zusammenrückt, auf dem noch viele Jahre kommen, dann hadert er schon mal mit seiner Wahl. Er fragt sich, was er verpasst haben könnte, was ihm das Sprühen gebracht hat. Andererseits, sagt Tim, habe er viel erlebt. „Wenn du mich mit einem 50-Jährigen in einen Raum setzt, dann erzähle ich dem was vom Leben.“ Tim hält Graffiti für ein gutes Hobby. Andere, sagt er, prügeln sich oder verkaufen Drogen.
Während seiner Sprüherlaufbahn habe er sein Kürzel sicher eine Million Mal irgendwo hingemalt, sagt Tim, „hundertprozentig“. Außerdem habe er jeden Tag auf dem Papier geübt, vor allem in der Schule: „Der Lehrer hat vorne irgendwas gelabert, ich habe nur das weiße Blatt Papier gesehen.“ Stunden nahm er sich Zeit für eine einzige Skizze, für sanfte Farbübergänge, die nur mit teuren Spezialstiften gelingen, für ausgeklügelte Hintergründe. Jetzt übt er nur noch für die Straße. Dafür zieht er eine Linie und denkt sich: Da fängt der Zug an. Dann zieht er eine zweite Linie, ein paar Zentimeter weiter unten: Da hört der Zug auf. „Dann mache ich exakt die Schritte, die ich auch am Zug machen würde.“ Er lernt seine Choreografie auswendig.
Ab und zu gibt es Momente, wo es knapp wird, wo er fast erwischt wird, wo er stundenlang in einem Gebüsch liegt, weil er nicht weiß, ob die Polizei noch in der Nähe ist. Psychologisch eine Riesenbelastung, sagt Tim. Man merkt es ihm an, ein bisschen Paranoia bleibt auch am Tag. Nur seine besten Freunde wissen, dass er nachts zu „1UP“ gehört.
Tausend Mal haben sie sich gesagt: Jetzt hören wir auf. Zum Beispiel in dieser Winternacht in Paris, nachdem sie von einem Schäferhund durch den U-Bahn-Tunnel gejagt worden waren. Ein paar Tage nach Silvester war das, sie wollten einen „Wholecar“ malen, einen Waggon, der von vorn bis hinten, von oben bis unten eingefärbt wird. Ewig sind sie durch die Pariser Nacht gelaufen, um einen Metro-Eingang zu finden, an dem man das Sperrgitter ein paar Zentimeter anheben kann. Dann sind sie durch den Dreck gerobbt, einer nach dem anderen. Mit Adrenalin im Blut haben sie sich zum Zug geschlichen, der dort unten übernachtete, sind über die Steine im Gleisbett gestakst, haben jeden Fuß mit Bedacht gesetzt, um ja keinen Lärm zu machen. Das Ergebnis: „Ein Wholecar, silber, bunter Background, schönes Ding.“
Gleich in der nächsten Nacht wollten sie es nochmal wissen. Wieder Dreck, wieder Schleichen, wieder ein Zug. Als sie loslegen wollten, tauchten Sicherheitsleute mit Schäferhunden auf. Tim und die anderen rannten wie wild drauflos, hinter ihnen hallte Gebell durch den Tunnel. Mit brennender Lunge und flauem Magen entkamen sie. „Das ist so ein Moment, wo man denkt, Scheiße Alter, warum machst du das überhaupt? Warum fahren wir durch die halbe Welt und geben unser ganzes Geld für Graffiti aus?“
Wenn andere Leute nach Paris fahren, gucken sie sich Gebäude an, Gemälde, Skulpturen. Tim und seine Leute gucken sich Zäune an. Reicht eine normale Zange? Braucht man einen Bolzenschneider? Mit isolierten Griffen, weil der Zaun unter Strom steht?
In Kreuzberg ist es wieder dunkel geworden. Tim geht schnell, er hat einen Termin, auf dem Gehweg weicht er Touristen aus. Er muss zu einer Bar, wo er ein Schild bemalen soll, ein Freundschaftsdienst. Angekommen, holt er die Dosen aus dem Jutebeutel, dann drückt er eine Schablone aufs Schild und sprüht ein kantiges „Happy Hour“ darauf.
Tim tritt vom Schild zurück und kneift die Augen zusammen, im Halbdunkel des Hinterhofs betrachtet er den Schriftzug. „Wenn ich heute nochmal entscheiden könnte, ob ich Sprüher werde“, sagt er, „dann würde ich sagen: Nö.“
Seit Kurzem hat Tim einen festen Job, es ist sein erster: Kreativwirtschaft, Büroalltag, feste Arbeitszeiten, nine to five. Manchmal hat er jetzt solche Momente, in denen er gerne noch einmal von vorn anfangen würde, sein Leben anders leben, normaler.
Aber diese Momente gehen vorbei.
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