Preußisches Erbe: Im Bann der Pfaueninsel
Herrliche Wasserlage, gute Fährverbindung, Unesco-Weltkulturerbe vor der Haustür – Michael Seiler wohnt in Berlins bester Lage.
Noch genau sieben Tage, dann kehren die Nachtigallen zurück. Michael Seiler weiß es genau: Er lebt seit 34 Jahren mit seiner Familie im Kastellanhaus auf der Pfaueninsel. „Residenzpflicht“ stand damals in seinem Vertrag. Welch Ironie angesichts der Schönheit dieses Fleckens.
Weckte man den ehemaligen Gartendirektor der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten nachts, er wäre auch im Halbschlaf in der Lage, aus dem Kopf eine genaue Karte der Insel zu zeichnen. Er kennt hier jeden Halm. Doch ihn weckt ja nichts, seit er sich an das Schlagen der Schlossglocke gewöhnt hat.
„Die nächtliche Dunkelheit genieße ich und kann nichts Unheimliches daran finden“, sagt Seiler, der als Kriegskind im Bunker erfuhr, wie die Angst der Erwachsenen „rieselte und roch“. Zu seinem Glück konnte ihn die Mutter aus dem umkämpften Berlin in die Schorfheide schicken, wo er aufatmete. Der Wald wurde Michael Seilers Schutzraum, bis heute.
Er verfertigt seine Gedanken am liebsten allmählich: beim Gehen. Wege sind seine Leidenschaft. Davon gibt es auf der Pfaueninsel viele – von Peter Joseph Lenné 1816 bis 1834 für den Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. geplant und angelegt, von Seiler und seinen Kollegen nachvollzogen und restauriert. Für alle, die drei Euro – ermäßigt 2,50 – für die Fähre parat haben und sich an die wenigen Regeln des Weltkulturerbes halten.
Michael Seiler zieht seine Haustür zu. Abschließen muss er nicht. Er fühlt sich auf der kleinen Havel-Insel sicherer als Königin Luise. Die sprach genervt von „der engen Pfauen-Behausung, wo kein Schloss und kein Riegel vor Einbruch bewahrt“.
Ein diesiger Aprilnachmittag wandelt sich kaum merklich in einen diesigen Aprilvorabend. „ÄÄÄÄ“, klagt ein Pfau. Das Klima erinnert an den Monat, den Seiler am meisten schätzt: den November. Dann hat er die Insel so gut wie für sich, und kein blauer Himmel stört das Bild.
Natürlich blüht es schon. Auf die laienhafte Frage, weshalb die Schneeglöckchen auf der Wiese im Vorgarten so ungewöhnlich dick und irgendwie fleischig seien, antwortet er: „Weil das Märzenbecher sind.“ Seiler lacht. Ein Missionar der Botanik ist er nicht. Der 73-Jährige mit dem unaufdringlichen Humor möchte die Besucher begeistern und ihren Blick öffnen, damit sie selber sehen lernen.
Das funktioniert zum Beispiel so: Beim Spaziergang bleibt er oft stehen, unterbricht sich und schaut aufmerksam, bis man es auch tut. Die mehrfarbige Rinde einer Platane rückt auf einmal ins Blickfeld, die Verästelungen einer alten Eiche, Krokusknospen und sogar das Palmenhaus, obwohl es 1880, im kalten Mai, niederbrannte. Seiler entdeckt immer wieder Neues, je nach Stimmung, je nach Jahreszeit. Wurmt ihn etwas, schlägt er einen ganz bestimmten Weg ein. Warum, wüsste er auch gern.
Man kann sich sehr gut vorstellen, wie er als junger Mann eine Dame auf Friedhöfen spazieren führte. Ein Test. Rümpfte sie die Nase über Moos und Totenstille, passten sie wohl kaum zusammen.
„Ein Garten ist Bewegung“, sagt Seiler, der auch Vorsitzender der Pückler-Gesellschaft ist. Ein Weg zeichnet den sanften Rücken eines Hügels nach, Bilder erscheinen, verschwinden, präsentieren eine neue Perspektive auf das, was man schon zu kennen glaubte – Trampelpfade und Abkürzungen sind Seiler ein Graus, auch im Geiste.
Phileas, der uns auf Schritt und Tritt folgt, sträubt sein Fell vor unsichtbaren Gegnern. „Du Angeber!“, ruft Seiler. Der schwarze Kater mit der weißen Blesse ist der Einzige, der auf der Insel machen darf, was er will. Seiler musste wegen Phileas einen Antrag bei der Verwaltung einreichen und ihn kastrieren lassen, erst nach positivem Bescheid durfte der Kater ins Kastellanhaus einziehen.
Das ist schon komisch, wenn man bedenkt, was die Preußenkönige mit der Pfaueninsel trieben: Der große Kurfürst schenkte sie einem Alchemisten, Johannes Kunckel, damit er ungestört experimentieren konnte. Die Glasmacherei war damals schick, und Kunckel beliebt, weil er Rubinglas für den Export herstellen konnte. Sein geheimes Labor fiel der Brandstiftung eines unbekannten Neiders zum Opfer.
Friedrich Wilhelm II. nutzte die Insel angeblich schon als Jüngling als Hideaway für sich und seine Dauergeliebte und Gefährtin Wilhelmine Encke, die mit 15 Jahren das erste von vier gemeinsamen Kindern bekam.
Friedrich Wilhelm III. wurde von einem Besuch des Pariser „Jardin des Plantes“ so inspiriert, dass er Tiere auf der Pfaueninsel ansiedeln ließ: Lamas, Affen, Kängurus, Hirsche und Bären. Unter dem wortkargen Regenten nahm Lenné seine Arbeit auf – hier durfte Preußen seine Uniform abstreifen und von der Südsee träumen. Ein Fluchtort.
Friedrich Wilhelm IV., als Romantiker bekannt, vermachte das tierische Erbe seines Vaters dem Zoo, um in Ruhe schwelgen zu können.
Seit 1924 steht die Pfaueninsel unter Naturschutz. Trotzdem traten die Nazis und ihre Gäste den Glamour von Preußens Tahiti platt: Die Abschlussfeier der Olympischen Sommerspiele 1936 fand auf der Pfaueninsel statt. Dabei zerstörte man den Charakter der Insel – mit einer Pontonbrücke zum Festland.
Ob all diese Figuren der Pfaueninsel, und es gibt Unzählige, Michael Seiler manchmal erscheinen? Er schüttelt energisch den Kopf. Trotzdem macht er sie auf seine Art wieder lebendig, indem er die Inselgeschichte aufschreibt.
Die deutsche Teilung gehört auch dazu: Zu Mauerzeiten stand Seiler in Kontakt zu seinen Potsdamer Kollegen. Lennés Sichtachsen haben den Kalten Krieg überlebt.
Michael Seiler ist hier länger ansässig als jeder Preußenkönig.
Von dem Fenster seines Arbeitszimmers aus kann er die Fähre sehen, die besonders bei schönem Wetter viele Ausflügler auf die Insel bringt. Auch Seiler und seine Frau sind auf den Fährmann angewiesen – einen eigenen Anleger haben sie nicht, Denkmalschutz. Wenn die Kinder sich als Teenager ins Nachtleben stürzen wollten, erforderte das eine fein abgestimmte Telefonkette. Für jemanden, der gern unbeobachtet kommen und gehen möchte, ist die Pfaueninsel schnell Robben Island – auch, wenn die Überfahrt nicht einmal 60 Sekunden dauert und man auch einfach rüberschwimmen könnte.
Hinter dem Haus haben die Seilers ihren privaten Garten an Schilf und Wasser, mit einem Maulbeerbaum, der Rose Élodie Gossuin, benannt nach einer französischen Schönheitskönigin und Politikerin, und einem Sandkasten für den zweijährigen Enkel. Der ist jetzt genau auf Pfauenhöhe und muss lernen, sich vor balzenden Männchen in Acht zu nehmen – Seilers Sohn wäre als Kind beinahe ins Auge gehackt worden. Zum Glück lernte auch er das Sehen und trug eine Brille.
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